Funkstille

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Es war mittlerweile schon eine Woche vergangen seit dem Treffen mit Daisuke. Seit jenem Treffen war Daisuke weder bei mir im Laden, noch schrieb er mir eine WhatsApp. Ich hatte ein total schlechtes Gewissen. Ich dachte, vielleicht hat ihm der Kuss nicht gefallen oder vielleicht war ich ihm zu aufdringlich. Ich wusste es nicht. Kurz hatte ich auch überlegt ihm mal zu schreiben, weil er zu mir sagte ich könne ihn immer anschreiben, aber ich wollte nicht zu aufdringlich wirken, deshalb ließ ich es bleiben.

Ich war gerade dabei mich fertigzumachen, um ein wenig spazieren zu gehen und ein stilles Plätzchen zu finden, um etwas zu zeichnen. Das machte ich nämlich jeden Sonntag. Ich packte mein Skizzenbuch ein und machte mich auf den Weg.

Gerade verließ ich mein Haus, ging die Treppe runter und bog um die Ecke, da sah ich vor mir einen sehr großen breitgebauten Mann. Meines Erachtens nach war ich eigentlich auch immer relativ muskulös, obwohl ich nie wirklich viel Sport trieb. Wobei das Arbeiten im Laden Strenggenommen auch als Sport gilt. Aber dieser Mann, der vor mir herlief war fast das doppelte an Masse von mir. Nicht im Sinne von dick, sondern von Muskulös. Ich schätzte ihn so in meinem Alter ein um die 40 vielleicht ein bisschen jünger und sehr attraktiv. Ich sah ihn ein paar Häuser weiter an einer Tür klingeln, was mir komisch vorkam, weil ich diesen Mann noch nie zuvor hier sah. Keine Minute später öffnete sich die Tür. Es war Daisuke. Er öffnete sie. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Für einen kurzen Moment hielten wir Augenkontakt. Ich versuchte den Augenkontakt zu halten, aber dann wich er meinem Blick aus und schloss die Tür. Kurz blieb ich noch stehen in der Hoffnung, er würde die Tür wieder öffnen, aber das tat er nicht. Ein wenig enttäuscht ging ich weiter.

Die ganze Zeit über konnte ich an nichts anderes denken als an die Situation eben. Was wollte der Mann bei Daisuke? Wer war er? Warum meldete Daisuke sich so lange nicht bei mir? Fragen über fragen, doch keine Antworten. Das einzige, was ich herausfand war, dass Daisuke jetzt in dem Haus wohnt wo früher der ältere Herr gelebt hat, der mir die Uhr schenkte, die ich in meinem Laden aufhing. Er war nämlich vor kurzem verstorben und dann wurde das Haus frei, in das Daisuke dann wahrscheinlich einzog.

Als ich endlich ein schönes Plätzchen zum Zeichnen fand, begann ich zu Zeichnen. Ich saß auf einer Bank und ich blickte geradewegs auf einen riesigen vereisten See mit Bäumen umgeben, die alle ihre Blätter verloren hatten. Während ich zeichnete, dachte ich über Daisuke nach. Ich glaube er meldet sich einfach nicht mehr bei mir, weil er nie Interesse an mir hatte. Ich meine, welchen Grund würde es sonst geben, sich bei jemandem von jetzt auf gleich eine ganze Woche lang einfach nicht mehr zu melden? Das musste es sein. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Aber dennoch habe ich Zweifel an dieser Feststellung. Die ganze Aufmerksamkeit die er mir gab und die Freundlichkeit... war das alles nur vorgespielt oder waren das seine echten Gefühle? Hatten die Momente, die wir gemeinsam erlebten überhaupt keine Bedeutung für ihn? Sein Lachen reißt mich immer mit und ich bin wie ausgewechselt wenn ich in seiner Nähe bin. Der Kuss, die Zuneigung die er mir schenkte war alles einfach nur gelogen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das alles fühlte sich zu real an. Durch ihn durchlebte ich so viele Emotionen, die ich in meinem ganzen Leben zuvor nicht spürte. Und das, obwohl wir uns erst ein paar Tage kannten. Noch nie in meinen 40 Jahren, die ich auf dieser Erde bin, wollte ich so sehr von jemandem Zuneigung bekommen wie von Daisuke. Ich weiß einfach nicht was mit mir los ist. Seit ich ihn kenne, ist mein Leben völlig chaotisch und ich erkenne mich selbst nicht mehr wieder. Durch meinen Autismus fällt es mir nämlich eigentlich sehr schwer emotionale Bindungen zu neuen Leuten aufzubauen oder generell Gefühle zu zeigen. Durch Daisuke habe ich das Gefühl, ich wäre ein ganz normaler Mensch wie jeder andere. Das gefiel mir so sehr. Ich glaube das ist der Grund, weshalb Daisuke mir so wichtig ist. Sonst war ich immer von Leuten umgeben, die mich nicht akzeptierten wie ich war und nur das Schlechte in mir sahen. Das ist auch einer der vielen Gründe, warum ich jetzt als erwachsener Mann immer noch so Schwierigkeiten habe, in der Öffentlichkeit zu stehen. Immerzu habe ich das Gefühl, dass die Leute hinter meinem Rücken über mich urteilen und nicht verstehen wollen, dass ich anders bin als andere. Aber bei Daisuke weiß ich, dass er niemals über jemanden urteilen würde. Das passt einfach nicht zu ihm, aber trotzdem sagt er immer seine ehrliche Meinung. Nur eben ohne andere zu verletzen. Das finde ich so bewundernswert. Ich sage auch immer was ich denke, aber das kann ich nicht wirklich kontrollieren. Deshalb kann es auch schon mal passieren, dass ich etwas sage, was ich aber ganz anders meine. Ich kann eben, das was ich denke nicht richtig in Worte fassen. Das ist eine meiner großen Schwächen, und hat mir schon einige Male das Leben schwergemacht.

Für einen kurzen Moment machte ich eine kleine Pause von dem vielen Nachdenken und legte meinen Bleistift zur Seite. Ich nahm noch meine Brille von meiner Nase und lehnte meinen Kopf zurück, um den kalten Winterlichen Wind zu spüren. Ab diesem Moment war mein Kopf gedankenleer und ich entspannte für ein paar Minuten auf der Holzbank mit wunderschöner Aussicht auf den vereisten See, der durch die Sonnenstrahlen zu glitzern schien. Ich liebte es so sehr in der Natur zu sein. Wenn ich den ganzen Tag nur Spazieren und die Natur genießen könnte, wäre ich wunschlos glücklich. Doch dann traf mich die harte Realität und mir wurde klar, dass ich morgen wieder den ganzen Tag über im Laden sein werde und keine Zeit für solche Träumereien haben würde. Wofür arbeite ich eigentlich mein Leben lang? Wer hat es den Menschen aufgebürdet ihr Leben lang arbeiten gehen zu müssen und nicht das zu tun, was sie am liebsten machen? Ich seufzte leise vor mich hin und schaute auf mein Handy. Ich sollte langsam nach Hause gehen. Ich packte also meine Sachen und machte mich auf den Weg.

Ich hatte mir vorgenommen heute mal was essen zu gehen. Seit Tagen hatte ich nämlich schon Hunger auf Ramen und nahm es mir deshalb für heute vor. Der Ramen- Imbiss war gar nicht so weit entfernt nur etwa 10 Minuten von meinem Haus aus. Und dafür, dass ich sowieso so selten außerhalb esse, dachte ich, gönne ich mir mal was. Ich kannte diesen Laden schon seit meiner Kindheit. Meine Eltern waren nämlich mit den Besitzern befreundet und deshalb bekamen wir früher oft kostenlos Ramen. Das waren schöne Zeiten. Ich setzte mich in der kleinen Bude an die Theke und bestellte meine Lieblingsramen. Mittlerweile führten neue Besitzer diesen Imbiss, deswegen war ich so lange nicht mehr hier. Die alten Besitzer hatten immer frische Zutaten und haben ihre Nudeln selber gemacht. Heutzutage ist alles nur Fertigware und hat überhaupt keinen Charakter mehr. Sie schmecken alle nur noch gleich. Zwar nicht schlecht, aber nicht so wie ich es von früher kenne.

Während ich aß, kam mir der Gedanke, dass ich Daisuke vielleicht doch mal schreiben sollte. Ich grübelte vor mich hin. Nach einigen Minuten des schweren Nachdenkens, fasste ich meinen Mut zusammen und zückte mein Handy. „Lieber Daisuke,", fing ich an zu schreiben, doch löschte meinen Text auch direkt wieder. Wie fängt man man bloß so eine Nachricht an ohne, dass ich zu aufdringlich wirke..? ich begann ein erneutes Mal „Hallo Daisuke, ich hoffe dir geht es gut." Nein, nein, nein. Ich löschte sie wieder und nahm verzweifelt meine Brille ab. Was mache ich nur? Fürs Erste ließ ich das Schreiben doch bleiben, denn ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Die Ramen rochen zu gut um sie kalt werden zu lassen.

Auf dem Weg nach Hause merkte ich, dass es langsam schon zu dämmern anfing. Ich schaute auf meine Handyuhr. Schon 18 Uhr? Ich hatte eigentlich nicht vor so lange wegzubleiben... Schon bald war ich auch schon wieder zu Hause und das erste was ich tat, war Hikari zu füttern. Der arme war fast am verhungern, obwohl ihm eine kleine Diät auch nicht schaden würde. Erschöpft ließ ich mich auf mein Sofa fallen und schloss für einen kurzen Moment meine Augen. Dann nahm ich meinen Mut zusammen und beschloss nun, Daisuke keine Nachricht zu schreiben, sondern ihn direkt einfach anzurufen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich wollte so sehr seine Stimme hören. Ich nahm mein Handy mit zittrigen Händen und wählte Daisukes Kontakt aus und drückte zögerlich auf „Anrufen". Ungeduldig wartete ich, bis er abnahm, und dann plötzlich hörte ich seine Stimme „Hallo Mikail...". Mein Herz blieb stehen. Ich konnte kein Wort rausbringen. „Mikail.. bist du da?", sagte er. Auf einmal hörte ich im Hintergrund die Stimme eines Mannes „Mit wem telefonierst du, Daisuke?", sagte er. Dann legte ich auf. Es war wie ein Reflex. Ich wollte das nicht tun. Ich hätte ihn nie anrufen sollen. Ich schmiss mein Handy gegen die Sofalehne. Verzweifelt rieb ich mir durchs Gesicht. Wer war dieser Mann? War das der der heute Morgen zu Daisuke gegangen ist? Warum war er immer noch bei ihm? Wie stehen die beiden bloß zueinander? Diese Fragen schwirrten mir die ganze Zeit im Kopf herum.

Um mich ein wenig abzulenken machte ich den Fernseher an und schaute einen Krimi. Irgendwann merkte ich, wie langsam meine Augen zufielen, als ich ganz plötzlich die Klingel hörte. Ich stellte den Fernseher auf Stumm und horchte, ob es noch mal klingeln würde oder, ob ich das nur geträumt hatte. Nach kurzer Zeit klingelte es wieder. Ich hatte es also nicht geträumt, aber wer klingelt denn um diese Zeit noch bei mir? Ich stand auf und öffnete die Haustür und war überrascht als ich sah, wer da vor mir stand. „Hey, Mikail. Wie geht's dir..?"

You made me feel what love is (manXman)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt