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Ich fühlte mich wie ein Idiot mit dem breiten, weißen Pflaster über meinem rechten Ohr am Montag auf dem Weg zur Schule. Den Rest des Samstags hatte ich in wohliger Ruhe meinem Zimmer verbracht. Am Sonntag hat mich Beck hinausgescheut und zu einem langen Spaziergang durch unser ganzes Waldgebiet gezwungen. Es tat zugegebenermaßen gut wieder draußen zu sein und vom Chaos des Packhauses zu entfliehen.

Die Natur war sanfter als Menschen. Pfeifender Wind war entgegen aller Erwartunden nicht nervig, sondern beruhigend und harmonisch. Blätterrauschen wirkte auf mich wie ein guter tiefer und gleichmäßiger Beat in Musikliedern. Ich sprach es der Naturliebe meiner Wolfsseite zu, dass das Chaos der Natur mich beruhigt im Gegensatz zu dem menschengemachten. Mit Tieren kam ich begrenzt aus. Wenn es zu viele Tiere sind, dann überkamen mich wieder Gefühle wie beim letzten Anfall und ich verlor mich in allen Geräuschen. Ich war ein einziges Mal im Kindergarten mit meiner Gruppe im Zoo gewesen und bin keine fünf Minuten nach dem Eintritt weinend mit Kopfschmerzen von der Gruppe weggestürmt und habe mich prompt im riesigen Tiergarten verirrt. Erzählungen nach wurde ich erst drei Stunden später gefunden. Total blass, zitternd, weinend, verschwitzt und so schreckhaft wie ein Rehkitz in einer Ecke mit beiden Händen über den Ohren. Ich wusste bis heute nicht was genau damals passiert ist, aber die damalige Diagnose war Nervenzusammenbruch mit Erinnerungslücken hervorgeführt durch massive Überreizung.

Deswegen ist es auch keine leichtfertige Entscheidung einfach in Becks Rudel zu ziehen, dass landwirtschaftlich geprägt ist und mehrere Tierfarmen beherbergt. Kurze Urlaube und mehrtägige Besuche gingen in Ordnung und waren irgendwie aushaltbar, aber ganz hinziehen wäre zu riskant und unnötiger Stress zu meinen und Becks Lasten. Ich wäre eine tickende Zeitbombe.

Ausatmend richtete ich mir den linken Kopfhörer und behielt weiter meinen Blick ins Nichts, während ich das Schulgelände betrat. Es ist eine Werwolfsschule, die mehrere Rudel aus dem Gebiet besuchten und ein Ort, wo wir uns alle verknüpfen können. Da wir im Land ziemlich weit im Norden leben, gibt es hier kaum Menschen und wir breiteten uns umso besser aus. Es waren praktisch alle Werwölfe und mit dem Leben als Wolf wurde offen umgegangen. Heute würde wieder eine Doppelstunde Wolfsport stattfinden, welche ich nach allen Bitten und Flehen trotzdem besuchen muss. Martin hatte mir leider keine Entschuldigung gegeben, weil er meinte, dass mein Ohr meine Verwandlung nicht beeinflussen kann und umgekehrt auch nicht. Beck wollte mich auch nicht entschuldigen und Alpha hatte ihm bei seinem Argument, dass mir die Bewegung und die Wolfsform gut tun und mich vielleicht wieder in Balance schwingen würde, einfach zugestimmt. Dabei fragte mich keiner, was mir guttun würde.
Getimeter Parkourlauf in Wolfs- und Menschenform und zum Schluss Völkerball ist es definitiv nicht.

Als sich die ersten neugierigen Augenpaare auf dem Hof vor der Schule an mich klebten, kämmte ich mir schüchtern mit den Fingern die Haare durch und versicherte mich, dass sie das strahlend weiße Pflaster so gut es ging abdeckten. Mein üblicher linker Seitenscheitel half dabei besonders. Doch es lohnte sich alles nicht. Ich hörte das Flüstern und der Schulfunk war wie immer schneller als das Licht.

Monoton sah ich weiter vor mich und trat die Stufen hoch zur Eingangstür. Auf der anderen Seite der Tür konnte ich Coco reden hören und hinter mir Adam und seine beiden Freunde über das Gelände stampfen. Unauffällig verlangsamte ich meine Schritte, damit Adam zu mir aufstoßen konnte.
"Lissia!", rief er mich, als sie die Stufen hinaufliefen und ich schon zum Türgriff greifen wollte.
Hummend sah ich zu ihnen zurück und öffnete die Tür einen Spaltbreit. "Guten Morgen.", meinte ich höflich.
Adam sah aufatmend zu mir hinab und stieß die Tür weiter auf. "Wir müssen reden." Etwas war nicht richtig. Alle drei Jungs wirkten angespannt und unruhig. Ihre Herzen konnten sich kaum beruhigen.
"Okay.", stotterte ich verunsichert heraus. Adam ergriff prompt mein Handgelenk und zog mich hinter sich her durch die Schule, dabei wäre ich doch sowieso mit ihnen gegangen. Das Lachen von Coco und ihren Freundinnen drang mir in den Kopf ein und ich ahnte schlimmes.
Hatten sie es geschafft Adam gegen mich aufzuhetzen? Oh nein, bitte nicht.

Spitz deine Ohren, Wolf!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt