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Druck füllte meine Ohren. Für einen Moment hörte ich rein garnichts und spürte nichts und ich fühlte mich wie im Rausch. Es war ein friedenvolles Gefühl und ich genoss die taube Erfüllung, solange sie in meinem chaotischen Leben anhielt. Der Moment dauerte leider nur so lange an wie ich die Luft anhalten konnte. Meine Lunge brannte und alle Reflexe nach Luft schnappen sprangen an, weswegen ich mich widerwillig vom Boden abstieß und zur Wasseroberfläche hochschwamm bevor die schwarzen Flecken vor meinen Augen stärker wurden. Eine Ohnmacht wollte ich nicht herausprovozieren und ertrinken schon gar nicht.

Oben schnappte ich laut nach Luft und fuhr mir mehrmals über die Augen bis ich wieder klar sehen konnte und der Druck in meinen Ohren nachließ. Der See ist einer meiner liebsten Rückzugsorte und liegt zwischen mehreren Rudelgebieten, deren Rudel vertraglich geregelt haben, dass jeder von ihnen und ihren Mitgliedern den See zu jeder Zeit nutzen darf. Mein Rudel ist glücklicherweise in der Vereinbarung mit dabei. Unser Gebiet schnitt zwar nur einige wenige Bäume auf der anderen Seite des Sees in dem ich mich nun befand an dennoch sind wir auch Teil der Vereinbarung.

"Lissia!" Ich hatte ihn und seinen Herzschlag schon gehört bevor er sich gemeldet hatte. Ich konnte nur nicht abschätzen, wie genervt er sein wird und ob er mich an Land ruft oder selbst ins Wasser springt um mich herauszuzerren. Seine olivenfarbenen Augen fixierten mich streng und deuteten mir an sofort zum Steg zu schwimmen, was ich ihn ganz bestimmt nicht zweimal sagen lassen will. Ich folgte einwandslos und nahm am Steg seine Hand an, die mich mit einem Ruck kräftig aus dem Wasser zog und auf dem Holzboden abließ. "Alle sagen, dass du ach so nett, lieb und ruhig bist, aber bei mir wiederholen sich immer die gleichen Sachen. Ich sage A, du machst B. Ich sage 'Lissia, pass auf, das ist meine Abschlussarbeit und du musst besonders vorsichtig sein' und du schüttest unabsichtlich deinen Saft drüber. Ich sage 'Lissia, meide den Nordwald, weil da Bärenfallen entdeckt wurden' und du verirrst dich auf dem Weg von der Schule zurück und landest in einer Bärenfalle.", schimpfte Beck genervt und stampfte den Steg hinauf und hinab. Mir warf er beiläufig ein großes Handtuch zu, das er anscheinend mitgenommen hatte. "Ich frage dich heute früh, ob ich dich zur Schule begleiten soll und ob du dich wirklich gut genug fühlst wieder hinzugehen und du stürmst entgegen aller Versprechen, wie super es dir heute geht einfach aus dem Gebäude und vom Gelände. Spurlos verschwunden für Stunden! Selbst an dein verdammtes Telefon kannst du nicht gehen, obwohl du immer diese scheiß Bluetooth Kopfhörer trägst! Verdammt, Sia, du kannst nicht mal ein Handyläuten oder ein Vibrieren überhören!" Er wurde mit jedem Wort immer lauter bis er mich am Ende entnervt anbrüllte.

Ich lauschte der Standpauke meines Bruder zu, während ich mir das Wasser aus den Haaren wrang und vorsichtig das eingeweichte Pflaster vom Ohr entfernte, das sowieso nur noch halb daran hing. Beck zog sein Smartphone und tippte aggressiv eine Nummer ein bevor er es sich ans Ohr hielt. "Ey, Steve, ich hab' sie gefunden. Sie ist beim See.", sprach er gleich als jemand abhob.
"Gut. Ich melde dann sofort weiter, dass die Suchaktion abgeblasen werden soll. Wie geht es ihr? Ist etwas passiert?"
"Sie lebt... noch." Beck war sowas von wütend und ich konnte mir auch klar vorstellen warum. "Keine Sorge, ich rede mit ihr. Wir sehen uns dann später wieder."
"Passt. Bleibst du bei ihr?" Weil man mir inzwischen wohl nicht mal mehr zutraut alleine zu sein.
"Ja, sicher."
"Okay, tschüss."
"Bye." Mit einem tiefen Atemzug legte mein Bruder auf und verstaute sein Smartphone wieder in seiner Hose.

Ich wandte schnell den Blick ab, sodass er nicht sah, dass ich ihn beobachtet hatte, doch er war schneller und ich bereute in dem Moment alles. "Wir beide haben jetzt einiges zu bereden.", zischte er mir scharf zu. "Aber vorher ziehst du dich um bevor du krank wirst. Bei deiner letzten Mittelohrentzündung warst du unaushaltbar." Mit dem Kopf nickte er mir auf meinen Rucksack zu und den Sportsachen, die ich heute früh noch für den Wolfsport hineingestopft hatte. Eine schwarze Jogginghose und ein luftiges Shirt. Meine Schuhe und Socken hatte ich noch ausgezogen bevor ich ins Wasser gesprungen war, genauso wie ich den Kopfhörer verpackt hatte und mein Smartphone mit meinem Rucksack auf dem Steg zurückgelassen hatte. Stumm nahm ich die Sachen aus meinem Rucksack und hievte mich auf die Beine. Becks Augen starrten mir Löcher in den Rücken auf meinem Weg in den Wald und hinter breite Bäumen, wo ich mich ungesehen umziehen konnte.

Spitz deine Ohren, Wolf!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt