𝘗𝘙𝘖𝘓𝘖𝘎 | kein sommermärchen

175 12 2
                                    

am kanalpackhaus, kiel-holtenau.

»the game was rigged, the ref got tricked.
the wrong ones think they're right.«


   »Das kann doch echt nicht wahr sein,« murmelte Annika verzweifelt neben mir. Ich starrte schon lange nur noch verzweifelt auf die Leinwand, die am alten Kanalpackhaus aufgestellt wurde. Carla war schon lange sehr still. Ungewöhnlich still und starrte so wie vermutlich jede Person in diesem Land auf die Zeit, die unerbittlich runter tickte. Keiner traute sich die Worte, die uns allen im Kopf rumschwirrten, auszusprechen. Das war vermutlich das Ende unseres kleinen Sommermärchens. Im Viertelfinale. Viel zu früh.

   Die 89. Minute lief und so langsam traute ich mich gar nicht mehr überhaupt noch hinzuschauen. Meine Nerven lagen blank, während wir drei uns gegenseitig in den Armen lagen. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie der Ball an der spanischen Strafraumgrenze hin und her geschoben wurde. Bis er schließlich am Fuß von Florian Wirtz landete. Die Zeit schien endgültig stehen zu bleiben, als er mit voller Wucht abzog. Der Ball flatterte zwischen den spanischen Verteidigern her und landete schließlich im langen Eck. Fassungslos starrte ich auf die Leinwand, wo die Spieler wild am Jubeln waren, während Carla aufgedreht mich aus meiner Schockstarre rüttelte.
   »Oh mein Gott, wir sind so back,« rief sie aufgeregt und hüpfte auf und ab. »Und genau deswegen ist der Mann dieses Jahr deutscher Meister geworden!« fügte sie grinsend hinzu. Seit Leverkusen zum ersten Mal deutscher Meister geworden war, waren ihr Temperament und ihre Euphorie als waschechte Leverkusenerin kaum noch zu zügeln. Und ich konnte es ihr nicht mal übel nehmen, denn genau diese Euphorie erfüllte mich ebenfalls, seit Holstein es als erster Verein aus Schleswig-Holstein den Sprung in die erste Bundesliga geschafft hat.
   »Ich kann das alles nicht mehr,« brachte ich aus purer Verzweiflung hervor, mein Nervenkostüm lag schon lange blank.
   »Ach was, wir machen das jetzt. Einfach positiv bleiben, Talia. Das Momentum ist auf unserer Seite und wir spielen verdammt nochmal eine Heim Europameisterschaft. Das muss einfach und wird klappen,« mischte sich Annika nun fest überzeugt ein, immerhin waren das anscheinend zwei Drittel von uns.

   »Das sagst du so leicht,« murmelte ich und wippte unruhig von dem einen auf den anderen Fuß. Das Spiel ging in die Verlängerung – Ein Fluch und Segen zugleich. Zumindest meiner Meinung nach. Immerhin hatten wir so noch die Chance, weiterzukommen. Andererseits waren es nun 30 Minuten mehr, um es doch noch zu vermasseln. Und der aller schlimmste Fall könnte auch immer noch eintreten. Das Elfmeterschießen – darauf konnte ich mehr als nur verzichten. Und bei dem Schiedsrichter und der Spielart der Spanier plagte mich schon die ganze Zeit ein ungutes Gefühl. Unruhig zupfte ich an dem Saum meines pinken Trikots herum, als die Verlängerung angepfiffen wurde. Es war ein Kampf auf Augenhöhe und ich traute mich zeitweise nicht mehr hinzusehen, wenn es brenzlig wurde. Geprägt von vergebenen Chancen ging die erste Halbzeit der Verlängerung zu Ende, und die zweite startete nicht weniger skandalös.
   »Wie um alles in der Welt ist das kein Handspiel?!?!« wetterte ich los, als der Schiedsrichter keine Anstalten machte, uns den Elfmeter zu geben, geschweige denn, das Handspiel zu überprüfen.
   »Rigged,« brummte Carla, mindestens genau so verbittert, und schüttelte nur ungläubig den Kopf. Ungläubig beobachtete ich, wie das Spiel ohne Elfmeter weiterlief und kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Dieses Spiel war schlimmer, als jedes Spiel im Kampf um den Aufstieg und noch so viel mehr zusammen. Die Zeit lief gnadenlos weiter, sie lief uns wortwörtlich davon, während die Spanier gerade in den letzten Minuten gefährlich nah zu unserem Tor kamen.

»Das wird so schief gehen,« murmelte ich, als die Spanier in der vorletzten Minute eine Ecke bekamen. Bangend sah ich zu, wie die Ecke in den Strafraum geschlagen wurde und nahezu perfekt auf dem Kopf eines in rot gekleideten Spieler landete. Von dort aus zirkelte der Ball gefährlich schnell aufs Tor zu – zu schnell und zu gefährlich. Und landete schließlich im Netz. Die Stille war erdrückend – Man konnte die kleinen Wellen an der Kaimauer brechen hören.
   »Wow,« gab ich geschlagen von mir und sackte enttäuscht zusammen.
   »Unfassbar, ehrlich,« wetterte Carla vor sich hin. Die Enttäuschung stand uns allen ins Gesicht geschrieben, als wir uns nach dem Abpfiff mit Tränen in den Augen ansehen. Für uns gab es kein Sommermärchen.

Noch am selben Abend brachte ich Carla zum Kieler Hauptbahnhof, für sie ging es auf schnellstem Wege zurück ins Rheinland – Die Pflichten riefen. Nach uns allen. Und so ging auch unser Sommermärchen an der Ostsee vorbei.
   »Ich hoffe, du nimmst mich ein Wochenende auf, wenn Holstein in Leverkusen spielt,« witzelte ich, als wir am Gleis ankamen.
   »Aber sicher doch,« grinste sie und umarmte mich ein letztes Mal.

   Und zu dem Duell zwischen dem Meister und Aufsteiger kam es schneller als gedacht.


𝘛𝘏𝘌 𝘓𝘜𝘊𝘒𝘠 𝘖𝘕𝘌 | Florian WirtzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt