Nervös betrachtete Penny sich im Spiegel. Sie strich ihre Stoffhose glatt, während ihr Blick aus den Augenwinkeln auf die neuen Kollegen fiel, die an ihr vorbeigingen. Der Aufzug brachte sie in die zehnte Etage, und während sie nachdachte, wie sie sich heute gekleidet hatte, wurde ihr klar, dass der erste Eindruck oft entscheidend war. Heute Morgen schien ihr das Outfit grandios, doch jetzt schlichen sich Zweifel in ihre Gedanken. „Morgen, Penny", begrüßte sie Amber, die ebenfalls für ein Praktikum hier war, „Wie geht's dir?" „Gut", Penny straffte ihre Schultern und versuchte ihre Nervosität zu verbergen, „Und selbst?" Gemeinsam gingen sie zum Büro der Chefin, die sie heute pünktlich um 8 Uhr bei sich erwartete. „Auch, ich bin gespannt welche Aufgabe wir heute bekommen. Frau Muscal klang sehr geheimnisvoll", erwiderte Amber, die ein Jahr älter war als Penny. Penny nickte nur und ihr entging nicht, wie ihr Celia, die seit einem halben Jahr als Praktikantin tätig war, sie musterte. Sie zwang sich inständig, nicht an ihrem Outfit hinabzusehen, sich ihre Unsicherheit anmerken zu lassen. Doch die Modewelt war nichts für schwache Nerven und Penny konnte nicht gerade mit dem größten Selbstvertrauen glänzen, also musste sie zumindest so tun, als würden ihr die Blicke nichts ausmachen. Amber und Penny hielten vor dem Büro von Elena Muscal, die in einem lilafarbenen Kleid und dazu passenden High Heels bereits hinter ihrem Schreibtisch saß. „Amber, warte bitte draußen. Ich will erst mit Penny sprechen", forderte Elena. Pennys Herz sank. Würde das Gespräch unangenehm werden, oder würde Frau Muscal sogar auf ihre Mutter zu sprechen kommen?
„Natürlich, Frau Muscal", erwiderte Amber, trat zurück und warf Penny einen fast mitleidigen Blick zu, während sie auf dem roten Samtsofa im Vorraum Platz nahm. Penny schritt durch die Tür und hielt inne, als Elena befahl: „Schließ die Tür." Die Kälte in ihrer Stimme war schneidend, und ihre Präsenz ließ Penny strammstehen. „Du wirst eine kleine Modenschau vorbereiten, dazu will ich eine Präsentation von dir, in denen du mir dein Konzept und die Kleidungsstücke vorstellst", wies Elena sie an, ohne sie dabei anzusehen oder ihr einen Platz anzubieten. Penny blieb mitten im Raum stehen, die Hände klamm und die Beine wackelig.
„Ich will die Ergebnisse heute Abend. Sei kreativ. Überrasch mich. Haben wir uns verstanden?", ihre Stimme war ein eisiger Wind, aber die Anweisung war unmissverständlich. Sie blickte endlich nach oben und eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen hüpfte in die Höhe. „Hast du deine Stimme verloren?", nun schwang ein Hauch von Amüsement in ihrer Stimme mit und Penny warf ihre Angst über Bord. „Nein, sie hatte nur kurz Urlaub. Ich kümmere mich drum", erwiderte sie frech und ein seichtes Lächeln umspielte Elenas Lippen. „Sehr gut. Wir sehen uns gegen 16 Uhr wieder, hier in meinem Büro", erwiderte Elena und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Keine zwei Sekunden später tippte sie aufgeregt auf der Tastatur herum.
Zurückgezogen im Besprechungsraum arbeitete Penny an ihrer Präsentation. Sie zerschnitt Modezeitschriften, die sie von Barbara bekommen hatte. Barbara war zwar über die Forderung irritiert gewesen, aber hatte ihr das Lager mit Magazinen gezeigt, die für den Müll bestimmt waren. Und das waren viele. Es durften nicht zu alte Ausgaben sein, mit der Vision die Penny vorsah, sollte es eine Kombination aus alt und neu werden.
Während sie die ausgeschnittenen Schnipsel auf das Moodboard klebte, beobachtete sie ihre Chefin, die sich mit Therese unterhielt. Elena sprach mit einer solchen Leidenschaft von dem Konzept der neuesten Show, dass Penny für einen kurzen Moment in ihren Bann gezogen wurde. Therese begann ebenfalls, voller Übereifer etwas auf ihrem Rechner zu visualisieren, während Elena sich über sie beugte, in die Hände klatschte und sie für ihren Einfall lobte.
Jeder mochte Elena für kalt und arrogant halten, doch in diesem Moment zeigte sie ihr wahres Ich. Von Therese wanderte Elena zu James, der sich verzweifelt die Haare raufte. Penny hatte gedacht, Elena würde ihm den Kopf abreißen, doch stattdessen setzte sie sich zu ihm und begann mit ihm zu diskutieren, lenkte ihn auf andere Wege und stellte fest, wie die Unsicherheit aus seinem Blick wich und einer Idee Platz machte. Elena unterstützte ihre Mitarbeiter, egal wie subtil sie es anstellte, das hatte Penny nicht erwartet.Nach der Mittagspause kam Elena durch die Tür, reichte Penny eine Flasche Wasser und ließ sich neben ihr nieder. Penny hielt den Mund, als sie bemerkte, wie Elena ihre Entwürfe betrachtete und Falten auf ihrer Stirn auftauchten. „Erzähl mir etwas zu deinen Ideen", verlangte Elenas und obwohl ihre Stimme hart war, hörte Penny Neugierde heraus. Penny erklärte das Grundkonzept ihres Entwurfs, ging jedoch nicht zu sehr ins Detail, um die Spannung bis zum Nachmittag aufrechtzuerhalten. Elena hörte zu, doch ihre Miene blieb unbewegt.
Sie griff nach einem Moodboard, auf dem vor allem Mode der 90er zu finden war: „Deine Ideen sind nicht schlecht, Penny. Aber es fehlt dir noch am Weitblick – was soll mir dieses Moodboard zeigen? Ich entdecke deinen Gedankengang dahinter, aber er ist nicht ausgereift, es ist zu kindlich. Das gewisse Etwas fehlt." Penny schluckte. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ihre Entwürfe als kindlich betitelt wurden. Ob sie den strengen Anforderungen ihrer Chefin überhaupt gerecht werden konnte? Immerhin war das hier Elena Muscal, die Modevisionärin schlechthin. Es gab kein Magazin was nicht über ihre Kreationen berichtete, Outfits von ihr als Empfehlung abdruckte, oder über die neuste Modenschau von ihr berichtete.
„Ich...", setzte Penny an, doch Elena stand auf. „Gute Arbeit, Penny", sagte sie, bevor sie die Tür hinter sich schloss.Es waren nur noch zwei Stunden bis zur Präsentation und Penny mühte sich, die Kritik ihrer Chefin nicht zu persönlich zu nehmen. Schließlich hatte sie auch ein Lob erhalten, das sie beflügelte. Die Modewelt gab ihr Halt, eine Ausflucht, die ihr erst jetzt richtig bewusst wurde. Endlich konnte sie ihre Trauer hintenanstellen, die ständige Diskussion mit ihrer Mutter hinter sich lassen. Gerade als sie ihre Gedanken sortierte, piepte ihr Handy. Kates Nachricht erschien auf dem Bildschirm: „Wie geht's dir? Wie läuft dein zweiter Tag?"
Zu sehr in ihre Aufgabe vertieft, ignorierte Penny zunächst ihre Mutter und ihre besorgte Neugier. Es gab Wichtigeres – sie wollte Elena Muscal beeindrucken. Doch das nagende schlechte Gewissen meldete sich bereits nach kurzer Zeit. Hin- und hergerissen griff Penny schließlich nach ihrem Handy und schrieb ihrer Mutter eine kurze, distanzierte Nachricht – derselbe Ton, der seit Monaten zwischen ihnen herrschte. „Gut."Sie tippte die finalen Worte ihrer Präsentation nieder und betrachtete die vier Moodboards an der Wand – sie war zufrieden mit ihrer Arbeit. Sie hatte ihre Emotionen visualisiert und die Kritik von Elena Muscal zum Anlass genommen, ihre Ideen umzustrukturieren. „Wirklich alles gut?" – poppte es auf Pennys Handy auf, die genervt aufseufzte. Vielleicht sollte sie ihrer Mutter mehr erzählen, sie in ihren Tag integrieren, um ihr zu zeigen, dass sie längst nicht mehr das kleine Mädchen war, dem Kate noch immer nachtrauerte.
„Es gibt eine kleine Planänderung", begrüßte Elena Penny, die ihre Moodboards unter ihrem Arm geklemmt hatte, „Heute Abend findet ein spontanes Shooting statt, da die letzten Bilder eine Katastrophe waren. Ich möchte, dass du mir hilfst die Outfits zusammenzustellen." Penny wären vor Überraschung fast die Boards aus der Hand gefallen und sie versuchte nicht allzu enthusiastisch auf dieses Vertrauen zu reagieren. „Na los, leg alles hier ab und dann gehen wir nach unten!", Elena schritt bereits aus der Tür, während Penny alles auf dem Schreibtisch ablegte und ihrer Chefin hinterhereilte.
Sie standen wenig später im großen Showroom des Gebäudes, welchen Penny bisher nur ehrfürchtig von außen betrachtet hatte. Kleidungsständer füllten den Raum und auch auf den Tischen und Stühlen stapelten sich Oberteile, Jeans und Kleider. Elena hatte ihr das Motto erklärt und Penny streifte bereits durch die Reihen, auf der Jagd nach den perfekten Outfits. Elena bemerkte, wie Penny sich an den Vorgaben festklammerte, weshalb sie dem jungen Mädchen folgte und fast zu Tode erschreckte, als sie sie ermunterte, ihre eigene Kreativität auszudrücken und das zu wählen, was ihr gefiel. Ihre Vision unterstrich und ausdrückte. „Aber wird das dann zu dem passen, was Sie mir eben erzählt haben?", fragte Penny unsicher und Elena nickte. „Alles, was du vor deinen Augen sehen kannst, wird dazu passen, denn es ist das, was du vor deinem inneren Auge zu meinem Konzept erschaffen hast. Also los, sei selbstbewusst und such dir die besten Stücke aus", Elena schob Penny Richtung Bühne, auf der ganz andere Kleidungsstücke auslagen als im vorderen Teil des Raums, „Tob dich aus und überrasch mich."
Mit müden Füßen ließ Penny sich auf ihr Bett fallen, der Tag war anders verlaufen als angenommen und sie fühlte sie einerseits beflügelt und andererseits kreativ ausgelaugt. Elena hatte ihrer Vision vertraut, ihrer Kreativität freien Lauf gelassen und war am Ende des Tages zufrieden mit ihrer Zusammenstellung gewesen. Trotzdem musste sie morgen noch ihre Präsentation abliefern und die vorherige Konfrontation mit ihrer Mutter, die wieder mal in Schweigen geendet war, hatte ihr vermutlich eine perfekte Idee für ihre Präsentation gegeben. Sie druckte noch etwas aus, schnitt und klebte ihre neue Collage zusammen. Zufrieden lag sie nun in ihrem Bett und konnte den nächsten Arbeitstag kaum erwarten.
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Unter demselben Himmel
RomanceNach dem tragischen Verlust ihres Mannes sucht Kate Lewis gemeinsam mit ihrer Tochter Penny in Los Angeles einen Neuanfang. Sie ist gefangen zwischen ihrer fortwährenden Trauer und der Herausforderung, sich selbst zu finden. Dabei stolpert sie unerw...