Kapitel 2: Von Gewissensbissen und Chemietests

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Den Rest des Tages verbringe ich überwiegend im Bett. Nicht, dass ich krank wäre, ich habe einfach nur ein schlechtes Gewissen. Ja, das mit Bonnie nervt und was würde ich dafür tun, mit ihr alleine in einem Raum zu sein, nur um ihr ihre blöden Extentions eine nach der anderen abzuschnippeln, aber das ist eben noch lange kein Grund, so fies zu sein. Ich mustere die Decke. Die feinen Risse in der Wand scheinen mich heute regelrecht anzustarren. Ich entdecke eine kleine Spinne in der Ecke und beobachte, wie sie Fäden miteinander verwebt. Man. Ich muss echt aufpassen, was ich denke. Denn leider habe ich die unvorteilhafte Angewohnheit, das, was ich denke, auch zu sagen. Und wenn ich schlecht gelaunt bin, naja, Katastrophe.
Außerdem fühle ich mich schuldig, zu erwähnen, dass mein Bruder in der Regel okay ist. Gut, er ist von Beruf her Nervensäge der allerhöchsten Stufe, er hat das Talent, andere Leute wegen seiner Dummheit manchmal regelrecht zum Verzweifeln zu bringen und er ist nicht unbedingt Horst Lichter in der Küche. Aber er kann, vor allem kann er, zuhören. Egal ob es ihn interessiert, er es versteht, er zu tun hat oder er Lust hat: Mike ist da, wenn man ein Problem hat. Sollte mich mal daran erinnern, wenn ich das nächste Mal seinen Salat esse.
Nun, und meine Mum.... hm. Ja, sie ist meine Mum und ich liebe sie, aber es gibt da einige Macken, die nicht unbedingt sein müssten. Zunächst einmal ist sie Psychologin. Das ist ja an sich nichts verwerfliches, jedoch meint sie, meine "arme Teenagerseele" "retten" und "verstehen" zu müssen. Ein klarer Fall von Anführungszeichen. Außerdem ist sie überzeugt, dass mein Bruder und ich von dem "Verlust des Vaters" traumatisiert sind. Nein, er ist weder gestorben, noch hat er uns verlassen, das Alkoholikerschwein alias Bernhard Reiber ist lediglich in der Entzugsklinik. Finden Mike und ich ganz gut, besser kein Vater als ein Asi in der Wohnung, dennoch ist Mum felsenfest davon überzeugt, dass uns deshalb ein Teil unserer "Kindheit" verloren geht. Wobei sie zu vergessen scheint, dass ich bereits 16 bin und Mike 15, sprich, unsere "Kindheit" ist sowieso schon vorbei. Aber das ist ein anderes Thema.

Jedenfalls versucht unsere Mutter alles, um uns zu verstehen und den "Verlust unseres Vaters" mit ihrer doppelten Fürsorge auszugleichen. Das kann manchmal schon sehr anstrengend sein. Aber immerhin habe ich Mike, und wie heißt es so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Später fällt mir ein, dass ich noch Chemie lernen muss. Wir schreiben morgen todsicher einen unangekündigten Test und wäre ich eine ehrgeizige, fleißige Schülerin, würde ich alles tun, um meine 5 auszubessern. Tja, nur leider bin ich weder ehrgeizig, noch muss ich irgendwas lernen, denn ich war klug genug, mich im neuen Halbjahr im Chemiesaal neben die Posterreihe an der Wand zu setzen, und da stehen so ziemlich alle Informationen drauf, die man als Chemiker jemals in seinem Leben brauchen könnte. Sogar auf zwei Sprachen. Gina Miller hatte letztes Halbjahr das Glück, den begehrten Platz an der Wand zu ergattern, und was soll ich sagen, sie steht auf 1,5. Nur leider war sie am ersten Schultag des neuen Halbjahrs krank, was ihr Bettruhe, mir einen neuen Sitzplatz bescherte.
Außerdem ist Steppmeier nicht der klügste Lehrer an der Schule, was er letztes Jahr schon reichlich bewiesen hat, also müsste es ein leichtes sein, abzuschreiben. Ja, ich denke, ich freue mich auf den Chemie-Test.

Am Abend telefoniere ich noch mit Liz und Kat, meinen besten Freundinnen, und erfahre Interessantes. Liz' Stimme ist piepsig vor Aufregung, Kat ist gelassen wie immer und ich höre einfach zu.
"Ihr werdet es nicht glauben, niemals! Oh Gott, oh Gott, oh Gott!"
"Liz, es wird alles gut. Sprich-"
"Nein, Kathy, es ist... ich... also... weil es... sie hat... ähm..."
"-doch wie ein normaler Mensch!"
"Okay. Es geht um Bonnie."
Ich horche auf und begebe mich zur Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen.
"Was ist mit der Schlampe denn lo-?", beginne ich, komme aber nicht weiter, denn meine Mutter ist neben mir aufgetaucht und schaut mich empört an. Keine Kraftausdrücke! sagt ihr Blick. Ich verdrehe die Augen.
"Also, was ist?", sage ich stattdessen brav und warte, bis Liz das Sprechen wieder gelernt hat.
"Ich hab sie gesehen, wie sie jemanden geküsst hat."
"Wie ungewöhnlich", entgegnet Kat und gähnt übertrieben.
"Außerdem hat sie einen Freund."
"Meinen Ex...", ergänze ich genervt.
"Ja, nur hat sie nicht Tom geküsst."
Nun, und dann ist es passiert. Ich spucke das Wasser aus, direkt in das Gesicht meiner Mum. Ups. Sorry. Aber es ist nun wirklich nicht meine Schuld, wenn sie einfach so in meiner Nähe steht. Ich stelle das Glas ab und verschwinde sicherheitshalber in meinem Zimmer.
Kat ist die erste, die Worte findet.
"Und? Sie ist 'ne verdammte Bitch. War doch klar, dass das passiert."
"WAS hast du gesagt, Liz?!", kommt meine Reaktion auf die Neuigkeit, als ich die Tür schließe. Minimal verspätet.
"Ganz richtig, Maya, sie betrügt deinen Ex. Vermutlich betrügt sie auch ihre Affäre. Und die Affäre ihrer Affäre, und die Affäre ihrer Affäre ihrer- naja, egal. Auf jeden Fall haben wir was gegen sie in der Hand."
Kat lacht.
"Und was wollt ihr jetzt tun? Allen sagen, dass sie Tom betrügt? Oder es nur Tom sagen? Vergesst es, Kinder. Es wird euch entweder keiner glauben oder es kümmert niemanden. Und dann steht ihr da wie Idioten. Vor allem du, Maya. Alle werden glauben, du willst nur zu Tom zurück. Das wäre armselig."
"Will ich nicht!"
"Das werden sie denken, Kindchen."
Das tut Kat immer, Liz und mich "Kinder" oder "Kindchen" nennen, wenn sie uns vor einer Dummheit bewahren will, uns einen Ratschlag gibt oder einfach so. Sie ist die Realistische von uns und die Reifere, auch wenn sie nur ein Jahr älter ist als ich.
"Gut", sagt Liz und legt enttäuscht auf. Irgendwie tut sie mir leid, sie will ja nur helfen. Kat und ich quaseln noch ein wenig, bevor ich mich entscheide, schlafen zu gehen. Doch der Gedanke, Bonnie davonkommen zu lassen, macht mich wütend und hält mich wach. Solange, bis der Wecker klingelt.

Und plötzlich war ich totWo Geschichten leben. Entdecke jetzt