Das beidseitige Leiden

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Niemand bereitet einen als Kind darauf vor, was es heißt das die Mutter Krebs hat, was das für Folgen mit sich tragen würde und schon gar nicht wie man selbst damit umgehen sollte.
Dem Patient wird so genau wie möglich erklärt was mit ihm passiert, klar man möchte ja auch wissen mit was man sich vergiften lässt, damit man wieder gesund wird.
Welch ein Paradoxon.

Aber als Kind des Patienten, bekam ich all das was im Krankenhaus passierte überhaupt nicht mit. Ich hörte davon, wenn meine Eltern sich darüber unterhielten oder meine Mutter dies mit anderen Bekannten besprach.
Doch das schlimmste war, dass was man selbst zuhause miterlebte.

Zu Beginn, als meine Mutter meinen Verwandten, darunter natürlich auch ihre Mutter, an der Feier des 18. Geburtstages meines ältesten Bruders, ihnen mitteilte, dass sie Krebs habe.
Mit der Zeit fing ich an mich in meinem eigenen Zuhause fremd zu fühlen und unerwünscht.
Manchmal fragte ich mich, ob mich irgendwer vermisste, wenn ich das ganze Wochenende in meinem Zimmer verbrachte, während ich mich weg in eine andere, bessere, Welt las.
Abends weinte ich leise vor mich hin und wünschte nach Hause zu können, doch wo sollte dies sein?
Mir schien alles wie ein wahrgewordener Albtraum, doch vorher habe ich nie auch nur so etwas geträumt.
Meine früheren Albträume handelten von den Ängsten und Gestalten aus den Filmen und Serien die ich gesehen hatte oder das die Welt untergehen würde und dass ich eine schlechte Noten bekam.
Doch als meine Mutter Krebs bekam änderte sich schlagartig ziemlich viel für mich, alles änderte sich, ich änderte mich.
Meine Albräume nahmen andere Gestalten an, Tod, Zweifel, Verfolgungswahn und ähnliches.
Ich schwor mir stark zu sein und nach außen niemanden sehen zu lassen wie innerlich zerrissen ich war und was für eine Unruhe in mir tobte.
Dies schien mir ganz gut zu gelingen.

Jetzt eine der schwersten und unangenehmstem Angelegenheiten, der Umgang mit meiner Mutter.
Sie hatte kaum Probleme damit ihre Haare zu verlieren, es gehörte dazu. Sie trug nur ein einziges Mal ihre Perrücke, sonst immer ein Tuch oder eine Mütze auf dem Kopf, weil es erst Herbst, dann Winter war und gegen Ende des Frühlings fingen auch ihre Haare schon wieder an zu wachsen.
Das machte mir alles nichts aus, es war zwar erst komisch sie mit einer Glatze zu sehen, aber man gewöhnte sich dran, so wie an viele andere Dinge auch.
Die erste Chemo war noch alles so wie zu vor, die zweite auch, sie wurde nur langsam weniger belastbar, dann verlor sie ihr Haar, überall, und damit begann es ihr auch immer mieser zu gehen. Sie verlor ihren Geschmack, alles schmeckte nur noch faad, man sah einige Veränderungen an ihr, zu Beispiel wurde ihre Haut felckig, trocken und faltig, ihre Augen tränten immer zu. Sie wurde immer gereizter, ich konnte nur selten vernünftig mit ihr reden, ohne ausgeschimpft oder angeschrien zu werden, oft für Dinge die ich nicht getan habe oder einfach weil meine Mutter sauer war und dabei im allgemeinen nicht mal speziell auf mich, eher weil es ihr schlecht ging.
Sie warf mir Sachen an den Kopf, die mich sehr verletzten.

Es gab immer einige Tage nach der Chemo, in denen es ihr sehr schlecht ging, sie kam kaum alleine hoch vom Sofa zur Toilette, manchmal mussten wir ihr helfen.
Sie litt sehr, sie weinte, heulte, fluchte jammerte und schrie.
Ihre Schreie gingen mir immer durch Mark und Bein, ich glaube das war das Schlimmste für mich.
Ich kam mit meiner Mutter nicht mehr klar, das war zu viel für mich.
Ich versuchte ihr aus dem Weg zu gehen, aber dies war meine Mutter!
Mir ist klar, dass sie für all das nicht das geringste konnte, aber ich hielt das nicht aus, ich hielt sie nicht aus. Das was sie anrichtete, betraf nicht nur mich, doch es schienen alle ganz okay damit zu recht zu kommen. Außer mir, aber das zeigte ich nicht. Ich sagte mir, ich tue es für meine Mutter und meine Familie, stark sein, doch letztendlich tat ich es wahrscheinlich für mich.
Langsam, aber stetig entstand in mir etwas negatives. Ich entwickelte viele negative Gefühle gegenüber meiner Mutter und mir selbst, das meiste war eine Mischung aus Wut und Hass.

Krebs verändert...!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt