Graue, tief hängende Wolken tauchten das Tal in ein düsteres Licht, das es trotz der Schneedecke trostlos wirken ließ. Verzweifelt versuchte die Sonne, sich gegen den dichten Dunstschleier durchzusetzen, aber mehr als ein heller Augenblick wurde ihr nicht vergönnt. Es kam Khione so vor, als würden die Wolken Pah Koha verschlingen und unter sich begraben, da sie sich nur im Schneckentempo vorwärts bewegten. Die knorrigen Äste der Bäume und Büsche ragten aus der weißen Last hervor und erinnerten Khione an die triste Steppe vor den Aevaria-Bergen. Im Gegensatz zu ihr würde Pah Koha jedoch im Frühling wieder zum Leben erweckt.
Wenigstens fiel im Moment kein Schnee, sodass die Arakis eine kleine Verschnaufpause bekamen. Seit Tagen waren sie dabei, die wichtigsten Wege freizuhalten. Dazu nutzten sie Eisenschaufeln, die sicher ein Überbleibsel der Sheikahs waren. So auch die Besen, mit denen die Frauen die Zeltwände der Khemahs befreiten. Sie waren handlich und leicht zu gebrauchen. Für die Arakis war die Menge an Schnee kein Grund zur Sorge.
Seufzend stützte Khione ihren Kopf auf der Hand ab und ließ immer wieder den Blick nach draußen schweifen. Liebend gern würde sie ihnen helfen, aber sie saß mit Kabiha im Kaminzimmer fest. Um ihre Langeweile zu überbrücken und sich endlich ihrer Aufgabe als Shihara zu stellen, hatte sie Tehews Frau um eine Lehrstunde gebeten. Da sie keine Ahnung und Erfahrung im Führen hatte, traute sie sich bisher nicht, eigene Entscheidungen zu treffen. In ihr saß die Angst, etwas falsch zu machen und dafür im wahrsten Sinne des Wortes gesteinigt zu werden. Die Niederschriften auf dem Tisch führten ihr deutlich vor Augen, welche fatalen Folgen eine überstürzte Handlung hatte, und das Letzte, was sie wollte, war den Arakis schaden. Daher war sie erleichtert, dass Kabiha ihre Unterstützung anbot.
„Du scheinst nicht bei der Sache zu sein", bemerkte sie mit einem fragenden Blick.
Leicht verzweifelt rieb sich Khione die Stirn. „Tut mir leid. Es ist so viel auf einmal, was ich beachten muss. Ich kann mir gar nicht alles merken", gestand sie. Hinzu kam die Müdigkeit, die die Wärme des Kamins verstärkte. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde ihre Geister sicher beleben.
„Makhah hätte dich von vornherein in jede Entscheidung miteinbinden müssen", sagte Tehews Frau.
Das wünschte sich Khione auch. So hätte sie jetzt weniger Probleme, sich mit ihrer Aufgabe auseinanderzusetzen. Alles auf einmal war ein gewaltiger Berg, der auf den ersten Blick unüberwindbar schien. Dafür war es nun zu spät und es lag an ihr, ihn zu bewältigen.
„Wie wäre es, wenn wir ein paar Szenarien durchspielen, bei denen du Entscheidungen treffen sollst?", schlug Kabiha vor.
„Wie meinst du das?", fragte Khione stirnrunzelnd.
Nachdenklich tippte sich Kabiha ans Kinn und schien zu überlegen. „Ich gebe dir ein paar Probleme vor, du fällst ein Urteil, das du für angebracht hältst. Anschließend sprechen wir darüber, welche Auswirkungen es hat." Sie beugte sich leicht vor und legte eine Hand auf Khiones Arm. „Du bist nicht allein. Wir sind da und unterstützen dich, bis du in der Lage bist, den Terikan zu führen."
Khione brachte ein kleines Lächeln zu Stande. Die Versicherung löste ein warmes Gefühl in ihrer Brust aus, trotzdem blieb sie zurückhaltend. Zu viel war geschehen und sie war sich nicht sicher, ob sie den Arakis wirklich vertrauen konnte. Den Gedanken schob Khione erst einmal zur Seite, denn eine Frage brannte ihr auf der Zunge, für die sie endlich eine Antwort haben wollte. „Kabiha? Warum habt ihr barbarische Strafen wie Finger abschneiden und Hand abtrennen?", flüsterte sie. „Was ist der Sinn darin?"
Die Ältere lächelte. „Sie dienen zur Abschreckung, damit keiner erst solche Verbrechen bergeht", erklärte sie. „Das, was Makhah getan hat, kam in der gesamten Geschichte unserer Rasse ...", fuhr sie fort und schien einen Moment zu überlegen, „... dreimal vor."
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Khione - Gefährtin des stolzen Kriegers
Historical FictionAraki - die barbarische Rasse im Norden der Welt Azura. Ausgerechnet von ihnen wird die junge Khione auf ihrer Flucht vor den Entführern mit einem Pfeil abgeschossen. Schnell wird ihr klar, wie unerwünscht und gehasst sie im Araki-Clan von Shiharu M...