Kapitel 1: Die Einsamkeit hinter dem Glanz

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Amelie stand in ihrem Zimmer, umgeben von Fotos, Pokalen und kleinen Andenken, die ihr Leben auf eine Weise perfekt widerspiegelten. Die fröhlichen Gesichter ihrer Freundinnen, die Bilder von Partys, von Sommernächten und lachenden Gesichtern – jedes Foto erzählte die Geschichte eines sorglosen, perfekten Lebens. Doch es war alles nur eine Illusion. Sie betrachtete sich im Spiegel, fuhr sich durch das glänzende Haar und konnte den Rest der Welt auf einmal kaum noch wahrnehmen. In ihren tiefen, dunkelblauen Augen lag etwas, das kaum jemand bemerkte – ein Funken Unsicherheit, ein Hauch von Einsamkeit.

„Wieso fühle ich das?“ flüsterte sie und berührte mit den Fingerspitzen ihr eigenes Spiegelbild. Die Augen, die sie zurück anblickten, sahen aus wie immer, und doch… waren sie leer.

Amelie war die beliebteste Schülerin der Elmswood High, das Mädchen, das jeder kannte und jeder bewunderte. Egal wo sie hinging, die Köpfe drehten sich zu ihr, Stimmen flüsterten ihren Namen, und Freunde umgaben sie wie das Strahlen eines Sterns. Doch all das schien sie nur weiter in eine tiefe Leere zu treiben. Sie lebte in einem goldenen Käfig, umgeben von einem Schein, der langsam aber sicher ihren wahren Kern erdrückte.

„Du hast alles, was man sich nur wünschen kann“, hatte ihre beste Freundin Ella einmal gesagt, als sie zusammen durch die Straßen der Stadt schlenderten. „Du bist schön, beliebt, und jeder will an deiner Seite sein. Was könnte dir noch fehlen?“

Amelie lächelte bei diesen Worten, wie immer, doch das Lächeln fühlte sich falsch an, als gehöre es zu einer Maske, die sie immer wieder aufs Neue aufzusetzen gezwungen war. Ella war lieb, loyal und ein wahrer Sonnenschein – doch wie konnte sie je verstehen, was Amelie wirklich fühlte? Niemand verstand es.

Amelie spürte es immer stärker: eine tiefe Unruhe, die sie von innen heraus quälte, wie ein Schatten, der in ihrem Inneren wuchs und keine Ruhe fand. Nacht für Nacht lag sie wach, starrte an die Decke und dachte über das Gefühl nach, das sie nicht in Worte fassen konnte. Es war ein Verlangen, ein Drang, der sie immer wieder in ihren Träumen heimsuchte – ein Ruf, der sie dazu drängte, die vertrauten Grenzen ihres Lebens zu durchbrechen und etwas Unbekanntem entgegenzutreten. Aber wozu?

In den letzten Wochen hatte sie das Gefühl gehabt, dass jemand sie beobachtete. Es begann als flüchtige Empfindung – eine Ahnung, die sie sich selbst zu erklären versuchte. Doch je länger diese Unruhe anhielt, desto sicherer wurde sie, dass da tatsächlich jemand war, jemand, der sie aus der Dunkelheit heraus betrachtete. Ihr war, als könne sie den kalten Blick eines Fremden spüren, selbst wenn niemand in der Nähe war. Sobald sie sich umdrehte, war da nichts, und doch… das Gefühl blieb.

Ihre Freundinnen hielten es für Einbildung. „Du bist wahrscheinlich nur gestresst, Amelie“, hatte ihre Freundin Clara einmal gesagt und ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Wir alle fühlen uns manchmal so. Ruh dich einfach aus.“

Amelie wollte Clara glauben, doch die Worte halfen ihr nicht. Das Gefühl, das immer nur im Hintergrund gekribbelt hatte, wurde in der letzten Zeit immer stärker und stärker, bis es sie völlig in seinen Bann zog. Manchmal hörte sie nachts sogar ein leises Flüstern, kaum hörbar, als würde jemand ihren Namen rufen, aus einer dunklen, fremden Ecke ihrer Gedanken. Sie konnte diesen Laut nicht benennen und wollte es auch nicht – es war zu unheimlich. Doch wie sehr sie es auch versuchte, das Flüstern verschwand nicht.

In dieser Nacht lag sie wieder wach, eingewickelt in die warme Decke ihres Bettes. Der Regen prasselte leise gegen das Fenster, und das Zimmer lag in Dunkelheit, nur das Mondlicht schimmerte matt durch die halb geschlossenen Vorhänge. Die Stille der Nacht umhüllte sie, und wieder hörte sie es. Ein Flüstern – leise, kaum wahrnehmbar. Ihr Name… „Amelie…“

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Das Gefühl war nun so stark, dass sie fast meinte, die kalte Hand eines unsichtbaren Wesens auf ihrer Schulter spüren zu können. Eine plötzliche Welle von Angst kroch in ihr hoch, und sie schloss die Augen, als könnte das sie vor der Dunkelheit schützen. Doch der Ruf blieb, eine unbestimmte Stimme, die aus ihrem Inneren zu kommen schien, ein leises, drängendes Flüstern, das sie fast zum Zittern brachte.

„Nein“, flüsterte sie, als wollte sie sich selbst beruhigen. „Das ist nicht echt.“

Doch je stärker sie das Flüstern zu verdrängen versuchte, desto intensiver drängte es sich in ihr Bewusstsein, wie ein dunkler Nebel, der sie zu verschlingen drohte. Fast unfreiwillig öffnete sie schließlich die Augen und setzte sich auf. Ein unheilvolles Gefühl durchzog ihren Körper, ein Hauch von Kälte, der sie frösteln ließ, obwohl die Decke warm auf ihren Schultern lag.

„Was ist mit mir los?“ murmelte sie und stand auf, trat ans Fenster und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit hinaus.

Draußen rauschte der Wind durch die Bäume, und das Geräusch des Regens vermischte sich mit den fernen Geräuschen der Nacht. Die Stadt schlief, doch etwas wartete dort draußen, das wusste sie jetzt mit einer entsetzlichen Gewissheit. Ihr war, als könnte sie zwischen den Bäumen eine Bewegung erkennen, einen Schatten, der sich unmerklich hin und her wiegte, wie ein Wesen, das nur auf sie wartete.

Das Flüstern verstummte. Doch Amelie spürte, dass es noch da war, ein Teil von ihr, das nach etwas Unaussprechlichem verlangte. Sie wusste nicht, was sie hinauszog in die Nacht, doch sie war sich sicher, dass das Gefühl sie nicht mehr loslassen würde.

Das Flüstern des Abgrunds Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt