Die Uhr schlug Mitternacht, und Amelie lag wach in ihrem Bett, gefangen in einem unheimlichen Gefühl, das sie nicht erklären konnte. Die Dunkelheit in ihrem Zimmer war wie eine lebendige Masse, die sie einhüllte und an ihre Brust drückte, bis ihr Atem flach und hastig ging. Es war wieder da – das Flüstern, dieses leise, schneidende Wispern, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte.„Amelie…“ raunte es, kaum hörbar und doch so klar, dass sie sich sicher war, es nicht zu träumen.
Sie setzte sich auf und lauschte, das Herz hämmerte ihr in der Brust. Das Flüstern verstummte nicht; es klang wie ein Summen, das sich an den Rändern ihres Bewusstseins festgekrallt hatte, sich in ihren Gedanken vergrub und sie nicht mehr losließ. Die Stimme war zugleich vertraut und schrecklich fremd, und je mehr sie sie zu ignorieren versuchte, desto eindringlicher wurde sie.
„Amelie… komm zu mir…“
Der Ruf drang aus der Finsternis selbst, und es war, als ob die Schatten an den Wänden zu atmen begannen. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und bevor sie sich versah, zog es sie zum Fenster. Dort schob sie den Vorhang ein Stück zur Seite und starrte hinaus. Der Wald schien in einem gespenstischen Licht zu schweben, als läge eine fremde Macht über ihm, ein geheimnisvoller Schleier aus Finsternis und Nebel.
In der Ferne meinte sie, eine Bewegung zu sehen – oder war es nur ein Schatten, den ihre Fantasie heraufbeschwor? Ein kalter Schauder kroch über ihre Haut, doch eine unaufhaltsame Neugier, ein merkwürdiges Verlangen drängte sie weiter. Ohne nachzudenken schlich sie aus dem Zimmer, das Haus lag still und dunkel, und Amelie fühlte sich, als trete sie durch einen Raum, der längst verlassen und vergessen war.
Sie schlich barfuß durch den Flur, öffnete leise die Haustür und trat in die kalte Nacht hinaus. Die Dunkelheit umfing sie, und alles, was sie hörte, war das leise Rascheln des Windes in den Bäumen und das entfernte Wispern ihres Namens.
„Amelie… Amelie…“
Mit jedem Schritt, den sie dem Wald näher kam, wurde die Stimme klarer, dringlicher, bis sie fast den Atem anhielt. Es war, als ob der Wald selbst zu ihr rief, ein riesiges, hungriges Wesen, das sie erwartete. Die Äste wirkten wie knochige Finger, die sich nach ihr streckten, und die Schatten schienen zu wogen und zu flüstern, als würden sie ihre Ankunft spüren.
„Was ist das nur?“ flüsterte sie und blieb stehen, doch ihre Füße schienen wie festgefroren. Sie wollte umkehren, aber das Gefühl des Rufes war jetzt so stark, dass es sie wie unsichtbare Fäden weiterzog. Ihre Schritte wurden schneller, ihre Haut prickelte vor Kälte und Angst, und bald fand sie sich auf einer kleinen, versteckten Lichtung wieder, deren Boden von alten, knorrigen Wurzeln durchzogen war.
In der Mitte der Lichtung stand ein Brunnen, verlassen, überwuchert und von Moos bedeckt. Er sah uralt aus, sein steinerner Rand war verwittert und zerbrochen, und aus der Tiefe des Brunnens strömte eine unheimliche Stille, die Amelie das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war, als ob etwas Dunkles, etwas uraltes in ihm lauerte, ein Wesen, das nur darauf wartete, dass jemand sich ihm näherte.
„Komm zu mir, Amelie…“ flüsterte die Stimme, jetzt direkt aus der Schwärze des Brunnens. Ihr Name hallte von den Wänden der Finsternis wider, zog sie in einen Bann, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Und dann sah sie ihn.
Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel des Brunnens auf, gehüllt in einen langen, schwarzen Mantel, sein Gesicht verborgen im Schatten. Nur seine Augen schimmerten kalt und leer, wie zwei glühende Punkte aus tiefer Nacht. Ein bleiches, hageres Gesicht war unter der Kapuze zu erkennen, und seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, das zugleich kalt und betörend war.
Amelies Atem stockte. Sie wollte schreien, wollte weglaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Die Augen des Fremden bohrten sich in ihre Seele, wie zwei scharfe Dolche, und in diesem Moment fühlte sie sich, als ob ihre eigene Angst sie lähmte und einsaugte, wie ein Mahlstrom, der keine Flucht zuließ.
„Du hast mich gerufen,“ sagte er leise, und seine Stimme klang wie das Knistern von Blättern in einer mondlosen Nacht. „Tief in deinem Herzen hast du nach mir verlangt. Ich bin die Dunkelheit, die dich schon lange umgibt, Amelie… du hast nur nie hingesehen.“
Sie schüttelte den Kopf, doch die Worte ließen sie erzittern, wie eine Kälte, die bis in ihr Innerstes kroch. „Ich… ich habe dich nicht gerufen,“ flüsterte sie schwach, doch selbst sie glaubte nicht an ihre Worte. Denn etwas an ihm fühlte sich beängstigend vertraut an, wie eine Seite von ihr, die sie stets verdrängt hatte.
Er kam näher, und mit jedem Schritt schien die Dunkelheit um ihn dichter zu werden, als ob er die Nacht selbst in sich trug. „Doch, Amelie,“ flüsterte er und legte eine eisige Hand auf ihre Wange. Die Berührung war wie das Streichen eines kalten, toten Fingers, und ein Schauder fuhr durch ihren Körper, doch sie konnte sich nicht abwenden.
„Du suchst nach etwas, das dich erfüllt, nicht wahr? Nach einem Teil von dir, den niemand kennt. Lass mich dein Verlangen stillen… lass mich die Leere in dir füllen.“
Seine Worte waren wie ein Gift, das sich langsam in ihre Adern fraß. Amelie wusste, dass sie weglaufen sollte, dass sie seine Worte nicht hören durfte, und doch… sein Angebot klang verführerisch, so verlockend, dass sie den Drang verspürte, ihm nachzugeben.
„Wer bist du?“ flüsterte sie, ihre Stimme brüchig und schwach.
Ein böses Lächeln spielte auf seinen Lippen. „Ich bin der, der dich kennt, Amelie. Der Teil von dir, den du nie zugeben wolltest. Die Dunkelheit, die in dir wohnt.“
Seine Augen fingen die ihren ein, und in ihnen sah sie etwas, das ihr die Luft zum Atmen nahm – ein endloser Abgrund, voller finsterer, schattenhafter Gestalten, die sich wanden und in die Finsternis zogen. Ein kalter Hauch umschlang sie, und die Welt um sie herum verblasste, bis alles, was sie wahrnahm, seine durchdringenden Augen und das unheilvolle Flüstern seiner Stimme war.
„Komm zu mir, Amelie,“ raunte er. „Lass die Schatten dich umarmen.“
Sie zitterte, doch etwas an seinen Worten weckte ein verborgenes Verlangen in ihr, eine Lust an der Dunkelheit, die sie selbst nicht verstand.
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Das Flüstern des Abgrunds
HorrorAmelie lebt das perfekte Leben: beliebt, schön und von allen bewundert. Doch hinter dem strahlenden Schein verbirgt sich eine tiefe Leere, die sie nicht fassen kann. Nacht für Nacht wird sie von einem unheimlichen Flüstern verfolgt, das sie aus ihre...