Kapitel 8: Die verzerrte Welt

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Amelie konnte die Stimme nicht mehr ignorieren. Sie war lauter als alles andere. Als sie den Flur entlangging, verschwammen die Gesichter der Schüler um sie herum wie in einem schlechten Traum, ihre Körper verzogen sich, deformierten sich, und sie konnte nicht mehr sagen, ob sie noch lebendig waren oder nicht.

„Amelie…“

Es war die vertraute Stimme ihrer Mutter, doch als sie sich umdrehte, stand niemand dort. Die Leere hinter ihr schien zu atmen, die Wände beugten sich zusammen, und Amelie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie verschlossen.

„Amelie…“

Da war es wieder. Die Stimme, diesmal von einer anderen Ecke des Flurs. Sie konnte die Quelle nicht erkennen, aber sie wusste, dass sie sich ihr näherte. Sie wandte sich um, versuchte, ihren Weg fortzusetzen, doch jedes Mal, wenn sie einen Schritt machte, schien der Flur sich zu dehnen, der Boden verschlang ihre Schritte wie in einem endlosen Abgrund. Ihre Gedanken rasten. Sie spürte, wie die Luft um sie immer schwerer wurde, als würde sie unter Wasser atmen.

„Amelie, komm zu uns. Wir warten auf dich.“

Das war nicht ihre Mutter. Es war eine andere Stimme. Tief, kratzend, als ob jemand mit Nägeln über eine Tafel schabte. Plötzlich stand sie da, die Person, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, eine groteske Figur, die sich vor ihr materialisierte.

Sie war kaum mehr als ein Mensch. Ihre Haut war grau, zerfurcht und nahtlos, als hätte sie nie richtig existiert. Ihr Gesicht war eine zusammengepresste Masse von Narben und zerbrochenen Zügen, die Augen fehlten, nur schwarze, leere Löcher klafften an ihrem Kopf. Die Lippen waren blutleer, als hätte sie jahrelang nichts gegessen oder getrunken. Und doch lächelte die Entität, ein groteskes, verzerrtes Lächeln, das ihr über das ganze Gesicht zog, als wäre es das einzige, was sie noch kannte.

„Du bist nicht allein, Amelie…“ Die Stimme hallte durch ihren Kopf. „Wir haben dich schon lange erwartet.“

Amelie wich zurück, doch der Flur zog sich weiter. Sie spürte, wie ihr Herz wild pochte, als sie die Gestalt anstarrte. Ihr Blick war leer, aber da war etwas anderes in diesem leeren Blick – etwas, das sie kannte. Irgendetwas, das sie tief in ihrem Inneren schon lange spürte.

„Geh weg… bitte…“, flüsterte sie. Ihre Worte waren ein schwacher Widerstand gegen die Übermacht der Entität, die sich immer näherte.

„Du kannst uns nicht entkommen, Amelie“, zischte die Gestalt, als sie ihre unnatürlich langen Arme ausstreckte. Ihre Finger endeten nicht in normalen Händen, sondern in grotesk verformten Klauen, die sich fast wie in Zeitlupe auf sie zubewegten. „Du hast uns gerufen. Du hast uns alle gerufen.“

„Was… was willst du von mir?“, stammelte Amelie, ihre Stimme brach fast unter der Last der Panik.

„Wir sind die, die du vergessen hast. Wir sind die, die du unterdrückt hast. Aber jetzt sind wir da, Amelie. Du kannst nicht mehr entkommen.“

Amelie schloss die Augen, versuchte sich zu befreien. Doch in dem Moment, als sie die Augen öffnete, war die Gestalt verschwunden. Stattdessen stand ein anderes, noch unheimlicheres Wesen vor ihr. Ein Kind, das wie ein Mensch aussah, doch sein Gesicht war ein verzerrter Albtraum. Die Haut war grau und faulig, die Augen waren weit aufgerissen und starrten sie mit einer leeren, hungrigen Intensität an.

„Warum hast du uns verlassen, Amelie?“, fragte das Kind, seine Stimme schrill und durchdringend, als ob es nicht von einem Kind stammen könnte, sondern von etwas viel Älterem. „Du hast uns hierhergebracht, also wirst du uns auch wieder sehen müssen.“

Amelie wollte schreien, doch es kam kein Ton aus ihr. Sie rannte los, ohne nach hinten zu sehen, doch der Flur schien sich immer weiter auszudehnen, der Boden schlang sich um ihre Füße, als wolle er sie festhalten, sie in dieser Dimension gefangen halten, in dieser Welt, die sich vor ihren Augen immer mehr verzerrte.

Sie erreichte die Tür zum Schulhof und stürmte hinaus. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, doch er war kein normaler Regen. Es war schwarzes, dickflüssiges Zeug, das sich wie Pech auf ihrer Haut anfühlte. Sie wollte sich die Augen reiben, doch ihre Hand war mit einer klebrigen Substanz bedeckt, die an ihrer Haut klebte, als wäre sie selbst Teil des Albtraums.

Amelie fiel auf die Knie, als sie den Blick hob und die Umgebung erblickte. Der Schulhof war völlig leer. Keine Kinder, keine Lehrer, keine Geräusche, die den Tag füllten – nur der endlose Regen und die verzerrte Welt um sie herum. Die Bäume standen wie gekrümmte, verdorrte Gestalten, ihre Äste wie blutige Klauen in den Himmel gerichtet.

Und dann hörte sie das Flüstern.

Es war nicht nur eine Stimme. Es war ein Chor von Stimmen, die sich durch ihre Gedanken schoben, immer lauter, immer drängender.

„Du bist nicht alleine, Amelie“, flüsterten sie. „Wir sind immer bei dir. Wir sind alle bei dir.“

Die Stimmen schienen direkt aus dem Boden zu kommen, aus den Wänden des Schulgebäudes, aus den Bäumen. Die verzerrten Gesichter erschienen überall um sie herum, groteske Fratzen, die sie starr anstarrten, die sich aus den Schatten lösten und in den Regen krochen.

„Was… was seid ihr?“ Amelie keuchte, den Kopf in den Nacken geworfen, während sie um sich blickte, als könnte sie vor den verzerrten Wesen fliehen.

„Wir sind die, die du vergessen hast, die, die du nicht sehen wolltest“, flüsterten sie. „Die, die du zurückgelassen hast. Wir sind hier, weil du uns gerufen hast. Du hast uns gerufen…“

Plötzlich fühlte Amelie eine eiskalte Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich ruckartig um – und da stand ein weiteres verzerrtes Wesen. Ein Mann, dessen Gesicht völlig verunstaltet war, als hätte es nie richtig existiert. Seine Haut war von wunden, leeren Narben durchzogen, seine Augen klafften offen, doch sie sahen nichts. Nur schwarze, tief leere Höhlen. Und er lächelte. Ein widerliches, hässliches Lächeln.

„Komm zu uns, Amelie“, sagte er mit einer Stimme, die wie das Schaben von Stahl klang. „Komm und sei mit uns für immer.“

Amelie starrte ihn an, ihre Augen geweitet vor Entsetzen. Sie konnte nicht mehr atmen, konnte sich nicht mehr bewegen. Die Welt um sie zerbrach, und die Grenze zwischen Wahnsinn und Realität löste sich endgültig auf.

„Du gehörst zu uns“, flüsterte der Mann, während sich die Fratzen der anderen verzerrten Wesen um sie schlossen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 11 ⏰

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