Amelie erwachte mitten in der Nacht. Ein unheimliches Gefühl hatte sie aus dem Schlaf gerissen, und als sie die Augen öffnete, schien das Zimmer noch dunkler zu sein als zuvor. Der Mond, der sich durch den Riss in den Vorhängen quetschte, war jetzt ein blutrotes, verzerrtes Gesicht, das sie anstarrte. Die Wände zitterten, als ob das Haus selbst atmete. In der Ecke des Zimmers war ein Schatten, der sich nicht mit der Umgebung deckte. Er war zu groß, bewegte sich zu schnell – und doch war er still, als ob er auf sie wartete.Der Klang von etwas, das auf dem Boden kratzte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ihre Augen wanderten automatisch zur Ecke, doch der Schatten war verschwunden. In der Stille hörte sie ein leises, kehliges Flüstern. Es war kein Wort, keine Sprache, nur ein unverständliches Murmeln, das sich immer wieder wiederholte und an ihrem Verstand zerrte.
„Komm zu mir...“
Amelie schluckte, der Puls in ihrem Hals dröhnte. Ihre Augen sprangen über das Zimmer, als sie versuchte, zu begreifen, was sie gehört hatte. Ihre Hände griffen nach dem Nachttisch, um sich zu stützen, doch als sie die Lampe berührte, schrie sie erschrocken auf. Der Schalter war nicht da. Wo war er hingegangen?
Sie sah sich um, aber alles schien sich zu verändern. Die Wände, die einst sicher waren, schienen jetzt zu schmelzen, das Zimmer zog sich wie ein Magen zusammen. Ein kaltes, nasses Etwas kroch über ihren Rücken, als würde etwas unsichtbares an ihr ziehen. Ihre Atmung beschleunigte sich, als sie sich zwang, aus dem Bett zu steigen. Der Boden war kalt und klammt, der alte Holzboden knarzte bei jedem Schritt, als ob er sie warnen wollte, nicht weiterzugehen.
Da war dieses Gefühl, dieses Drängen in ihrem Inneren, das sie zu einem Ziel zog. Ein Ziel, das sie nicht benennen konnte. Sie musste hinaus. Musste dorthin, wo der Fluss in der Ferne schimmerte, wie ein blutroter Faden, der sich durch die Nacht wand.
Ihre Füße bewegten sich fast von selbst, als sie die Tür öffnete. Ein eisiger Wind schickte ihr einen Schauer über den Rücken, und der Wald vor ihr, der still und geheimnisvoll in der Dunkelheit lag, schien sie zu rufen. Doch je weiter sie in den Wald vordrang, desto schwerer atmete die Luft. Etwas lag auf ihren Schultern, ein Gewicht, das sie nicht abschütteln konnte, und das Flüstern kam wieder, lauter als je zuvor. Es war so nah, dass es sich an ihren Ohren fräste, als würde der Wind die Worte direkt in ihren Kopf schrauben.
„Komm zu mir...“
Ihre Beine fühlten sich taub an, als sie weiterging. Der Wald, der vorher ruhig und freundlich wirkte, schien sich zu verdunkeln, jeder Baum bückte sich unter einem unsichtbaren, düsteren Gewicht. Die Äste knarrten, und plötzlich hatte sie das Gefühl, von unzähligen Augen beobachtet zu werden. Ihre Schritte hallten in der Stille wider, aber der Wind hielt sich zurück, als ob er sie nicht stören wollte. Nur das unaufhörliche Kratzen in der Ferne, wie von Krallen, die den Boden durchbohrten, ließ sie wissen, dass sie nicht allein war.
Der Fluss lag vor ihr – ein gewundener, schwarzer Band aus Wasser, das in der Dunkelheit kaum noch zu sehen war. Aber das, was sich darin spiegelte, ließ sie innehalten. Es war nicht der Mond, der sich in der Oberfläche brach. Es war ein Gesicht. Und dieses Gesicht gehörte nicht zu ihr. Es war ein groteskes, entstelltes Wesen mit weit aufgerissenen Augen, die sich mit jeder Bewegung verzerrten, als würden sie in den Abgrund hinabgezogen.
„Komm zu mir…“
Die Stimme war jetzt nicht mehr ein Flüstern, sondern ein gequältes, krächzendes Heulen. Es schien aus den Tiefen des Wassers zu kommen, von einer Kreatur, die in den Wellen lauerte, hungrig, wartend. Amelie zitterte, als sie den ersten Schritt ins Wasser setzte. Es war eiskalt, das kalte, tote Wasser schien sie mit jedem Schritt mehr zu saugen, als wollte es sie ganz verschlingen.
Ihr Blick war auf das andere Ufer gerichtet, auf die Gestalt, die dort stand – eine dunkle Silhouette, kaum mehr als ein Schatten, der sich in der Dunkelheit verlor. Doch irgendetwas an dieser Gestalt war... falsch. Ihre Augen, weit geöffnet und leuchtend, schimmerten im Dunkeln wie zwei glühende Punkte. Als sie sich bewegte, tat sie dies nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Marionette, deren Fäden von etwas anderem gezogen wurden. Und das Flüstern wurde zu einem brüllenden Schrei, der in ihren Ohren zerriss.
„Komm zu mir...“
Der Fluss zog an ihr, umhüllte ihre Beine wie eisige Arme, die sie immer tiefer zogen. Ihr Herz schlug so laut, dass sie dachte, es könnte den Wald selbst durchdringen. Sie wusste, dass sie nicht zurückkonnte, dass es kein Zurück gab, egal wie sehr sie es versuchte. Ihre Füße setzten sich von selbst in Bewegung, der Boden unter ihr verschwand, das Wasser kroch über ihren Körper, und der Schatten trat aus der Dunkelheit hervor. Er war jetzt nicht mehr nur ein Schatten. Es war ein Albtraum, ein Monster aus den Tiefen der Dunkelheit, das sie immer gefunden hatte, wo auch immer sie war.
„Du bist mein“, flüsterte die Stimme aus dem Fluss, als das kalte Wasser sie in die Tiefe zog und der Mond sich endgültig hinter den Wolken versteckte.
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Das Flüstern des Abgrunds
HorrorAmelie lebt das perfekte Leben: beliebt, schön und von allen bewundert. Doch hinter dem strahlenden Schein verbirgt sich eine tiefe Leere, die sie nicht fassen kann. Nacht für Nacht wird sie von einem unheimlichen Flüstern verfolgt, das sie aus ihre...