Kapitel 5: Der Spiegel

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Amelie wachte schweißgebadet auf. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, als ob es in ihrer Kehle hämmern wollte. Der Albtraum war noch immer frisch in ihrem Kopf, der Blick auf die grinsende Gestalt, die sie verfolgt hatte. Der Raum um sie herum war dunkel und leer. Kein Geräusch, nur das gelegentliche Knacken der Wände, das von draußen herüberdrang, als würde das Haus selbst atmen.

Sie blinzelte gegen die Dunkelheit und versuchte sich zu orientieren. Es war still, viel zu still. Mark war noch immer nicht zurück. Ihr Blick wanderte zur Uhr – 2:14 Uhr. Was war passiert? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Bett gekommen war, und noch weniger, warum das Bild des fremden Gesichts immer wieder vor ihren Augen tanzte. Es war wie ein Schatten, der sie nicht losließ.

Sie stand auf, der kalte Boden unter ihren Füßen fühlte sich unangenehm an. Eine unbestimmte Angst packte sie, und der Drang, sich zu bewegen, wurde immer stärker. Sie musste raus aus diesem Zimmer. Vielleicht, dachte sie, würde sie Mark finden und alles in Ordnung bringen. Doch der Gedanke an den Flur, der in der Dunkelheit versank, machte sie nervös. Die Flimmerlichter der alten Glühbirnen zitterten und warfen bizarre Schatten an die Wände.

Amelie schlich sich langsam durch den Flur, der sich in der Dunkelheit dehnte. Ihre Hand zitterte, als sie den Türknauf der Bibliothek ergriff. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas in diesem Raum auf sie wartete. Etwas, das sie nicht verstehen konnte. Etwas, das sie nicht wollte.

Als sie die Tür öffnete, stieg ihr der stechende Geruch von altem Holz und Staub in die Nase. Der Raum war dunkel, doch das schwache Licht der Flurbeleuchtung reichte aus, um die Umrisse der Regale und der Möbel zu erkennen. Sie trat vorsichtig ein, das Gefühl von Beklemmung nahm zu, je weiter sie vordrang. Und dann fiel ihr Blick auf den alten Spiegel in der Ecke des Raumes.

Es war derselbe Spiegel, den sie am ersten Tag in dieser Bibliothek gesehen hatte, doch jetzt schien er anders. Größer. Bedrohlicher. Irgendetwas in der Luft hatte sich verändert. Der Raum um den Spiegel war wie in einer anderen Dimension, die Zeit selbst schien stillzustehen.

„Das darf nicht sein“, flüsterte Amelie zu sich selbst, doch ihre Füße zogen sie trotzdem näher zu dem Glas. Als sie davor stand, spürte sie die Kälte, die von ihm ausging. Ihre Hand ergriff zögerlich den Rand des Rahmens.

Und dann sah sie es – das Bild, das sich im Spiegel abzeichnete. Es war nicht das ihre.

Ein verzerrtes, groteskes Gesicht starrte sie aus dem Glas an. Die Augen waren weit aufgerissen, leer, als ob sie in eine tiefere Dunkelheit blickten. Ein Lächeln, kalt und schaurig, zog sich über die Wangen des Spiegelbildes. Es war nicht sie. Es war jemand anderes. Aber sie erkannte es. Es war das Gesicht der Gestalt, die sie in ihrem Albtraum gesehen hatte.

„Was… was bist du?“, hauchte sie, ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren. Ihre Hand, die den Spiegel berührte, zog sich fast wie von selbst zurück. Doch der Griff war fest. Sie konnte sich nicht befreien.

Im Spiegel verzerrte sich das Bild. Der Raum um die reflektierte Gestalt wurde lebendig. Er weichte von den Wänden ab und wuchs – er nahm Form an, nahm den Raum ein, in dem Amelie stand. Die Wände begannen zu wanken, die Luft wurde dick und schwer.

Das Lächeln des Spiegelbildes wuchs. „Du kannst nicht entkommen“, flüsterte es, die Stimme verzerrt und tief. „Du bist hier. Für immer.“

Amelie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Kälte des Spiegels fror ihr das Blut in den Adern ein. Sie versuchte, sich abzuwenden, doch ihre Füße waren wie festgefroren. Die Spiegelgestalt rückte näher und die Wände um sie begannen sich zu verformen, als ob der Raum selbst sie verschlucken wollte.

„Es ist zu spät“, wisperte die fremde Stimme, jetzt direkt hinter ihr. „Du hast dich entschieden. Du hast mich gerufen.“

Amelie drehte sich um, aber hinter ihr war niemand. Nichts. Nur die endlose Dunkelheit, die sich in der Bibliothek auszubreiten schien. Doch der kalte, abartige Gefühl in ihrem Nacken ließ sie wissen, dass sie nicht allein war.

„Mark?“, rief sie verzweifelt, aber ihre Stimme erstarb, als sie einen Schatten aus dem Augenwinkel sah. Ein Geräusch – wie das Knacken von Knochen, das sich aus der Dunkelheit schälte.

„Du bist jetzt mein“, flüsterte die Stimme hinter ihr. Ihre Hand fuhr in die Luft, die sich plötzlich schwer und greifbar anfühlte. „Für immer…“

In diesem Moment schloss Amelie die Augen, in der Hoffnung, dass alles nur ein weiterer Albtraum war. Doch als sie die Augen wieder öffnete, stand sie immer noch vor dem Spiegel – und das verzerrte Lächeln starrte sie aus dem Glas an, als ob es nie wirklich verschwunden wäre.

Das Flüstern des Abgrunds Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt