Kurzgeschichte 14

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Der eisige Novemberwind rauschte durch die Bäume, die Dunkelheit hielt bereits Einzug. Sie war auf dem Weg nach Hause vom Klavierunterricht. Der dunkle Nadelwald schien ihr nicht geheuer zu sein, denn sie rannte beinahe über den Waldboden. Ihre Füße in den schwarzen Winterstiefeln hinterließen dabei keine Spuren, ihre Hände hatte sie in die Taschen ihres dunkelbraunen Trenchcoades gesteckt. Sie fror offensichtlich, denn hin und wieder zog sie mit ihrer linken Hand den bunten Wollschal enger, den sie um den Hals trug. Über der Schulter hing eine braune Ledertasche, die bei jeder Bewegung drohte herunterzufallen. Ihr schien es egal zu sein, dass ihre braunen Haare wild umherflatterten, ihr einziges Ziel war das Haus am Rande des Walds. Sie hätte einen Umweg nehmen können, der sie um den Kiefernforst herumführte, doch sie war spät dran. In ihrem Kopf malte sie sich schon das warme Abendessen aus, mit dem ihre Mutter sie erwarten würde. Wieder beschleunigte sie ihre Schritte, sie lief vorbei an der Lichtung und den aufgetürmten Baumstämmen, bis zu der Kreuzung, an der zwei Waldwege aufeinandertrafen. Den Blick hatte sie stur nach vorne gerichten, so dass sie den grauen Lieferwagen nicht sah, der von links auf die Kreuzung zufuhr. Viel zu spät sah auch der Fahrer das junge Mädchen. Alle Versuche zu Bremsen schlugen fehl: Das Auto raste auf die Vierzehnjährige zu. Sie drehte den Kopf zur Seite, ihre schreckgeweiteten blauen Augen trafen auf die des Fahrers. Doch es war zu spät: In der nächsten Sekunde schlitterte der Wagen in das junge Mädchen hinein. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, wurde in die Luft gerissen und landete unsanft auf dem Waldweg. Ihre Augen waren geschlossen, aus ihrem offenen Mund lief ein Blutrinnsal. Der Fahrer stieg aus, der Schock saß ihm noch in den Gliedern. Schnell rannte er zu der Vierzehnjährigen. Doch auch seine Versuche, das Mädchen wieder ins Leben zurückzubringen, schlugen fehl. Mit Tränen in den Augen tippte er die Nummer des Notarztes in sein Handy ein, wohl mit dem Wissen, dass auch ein Arzt sie nicht mehr beleben konnte.

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