Kapitel 6

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,,Wann, denken sie, wird sie wieder aufwachen?" ,,Hm, schwer zu sagen. Vielleicht in ein paar Minuten." Ich höre, wie ein Stuhl über den Laminat-Boden gezogen wird. Ich sehe nur schwarz, endlose schwarze Weite. Panisch versuche ich meine Augen zu öffnen. ,,Clairé! Clairé, du bist wach!", höre ich Marilyn. Endlich raffen sich meine schweren Lider auf. ,,Clairé! Ich hab mir so Sorgen um dich gemacht! Du bist kurz vor Dunworley einfach zusammen gebrochen! Oh bitte Süße, mach das nicht nochmal!", sagt sie. Ihr Gesicht ist blass. Ich nicke und sehe mich um. Ich bin in unserem Krankenhaus. Marilyn setzt sich auf das gepolsterte Bett und stellt ihre Füße auf den Stuhl. Sie streicht mir über die Wange eine Träne weg. ,,Willst du nicht mit mir reden?" Ich seufze, ich werde nie drum rum kommen. ,,Weißt du noch, als meine Eltern abgesagt haben? Vor fast einem Jahr. Damals bin ich weinend weg gerannt." Marilyn schaut mich neugierig an. Sie nickt. ,,Daisy ist mir hinterher gelaufen. Du weißt nicht, wie stark sie mich provozieren kann. Ihr wisst nicht, was ich für einen Druck aushalten muss. Zuhause, ich muss immer das beste geben. Und Daisy soll mein Vorbild sein. Ich hasse dieses Mädchen." Marilyn nickt, es ist nichts neues für sie. Ich überlege. Soll ich ihr wirklich alles anvertrauen? Kann ich das? Wird sie schweigen? Wenn sie mich verrät, würden sich die Probleme bis nach Alaska stauen. Aber das würde sie das tun? Nein. Ich schlucke. ,,Vor vier Tagen, vielleicht auch vor drei, ich weiß es nicht mehr; ich bin ans Meer gelaufen. An die Felsenküste. Dort, wo die anderen gerade sind. Ich hätte mich um...ich hätte es fast getan, ich...", schluchze ich los. Marilyn laufen ebenfalls Tränen über die Wangen. Stumm schließt sie mich in die Arme. Einige Minuten sitzen wir so da. ,,Ist alles in Ordnung?" Eine Krankenschwester steht unsicher vor meinem Bett. Ich nicke und sie läuft weiter. ,,Aber das ist noch nicht alles, oder?" Marilyn sieht mich durchdringend an. Ich schaue zu Boden; überlege, wie ich ihr den Unfall erzählen soll. Vielleicht sollte ich es doch noch abwenden. Ich zögere. Zu lang. Verdammt, Clairé! Jetzt weiß sie, dass da noch mehr ist. Ein- und ausatmen, ganz ruhig. Marilyn sieht mich erwartungsvoll an. Ich spüre etwas warmes auf meiner Wange. ,,Daisy war auch da. Sie hat mich wieder provoziert. Ich bin ausgetickt. Wir haben uns gestritten. Geschlagen, gekratzt. Sie hat mich mit dem Messer bedroht. Ich habe die Kraft gehabt, ich hätte sie getötet." Marilyn wird blass, sie atmet tief ein. ,,Sie ist auf einen Stein aufgeschlagen und ohnmächtig geworden. Marilyn, ich glaube sie ist tot!", schluchze ich los. Mir wird kalt, ich zittere. ,,Clairé, wo ist Daisy.", fragt sie ruhig. Ich schluchze. Sie nimmt meinen Arm und schüttelt mich. ,,Clairé! Wo ist sie?", ruft Marilyn aufgebracht. ,,In der Felsennische.", schluchze ich ängstlich. Sofort lässt Marilyn von mir ab. ,,Oh Gott. Clairé, versprich mir, dass du keine Dummheiten machst!", ruft sie und verlässt die Krankenstation. Tränen fließen in Bächen über mein Gesicht. Ich hätte es ihr nicht sagen sollen. Jetzt bekomme ich großen, sehr großen Ärger. Ich muss weg. Schnell. Vorsichtig stehe ich auf, ich weiß noch nicht einmal, warum ich hier war. Tatsächlich zittere ich, als ich mein Gewicht auf die Beine verlagere. Unsicher gehe ich aus meinem "Abteil" hinaus und schleiche durch das riesige Zimmer. Zum Glück sind in den paar belegten Abteilen die Vorhänge zugezogen. Die Tür hinter mir kracht zu. Erschrocken springe ich in ein Abteil. ,,So, meine Liebe. Hustensaft. Hast du noch Magenschmerzen? Oder Brechreiz?", höre ich die quietschende Stimme einer Krankenschwester. ,Bitte, bitte findet sie mich nicht. Bitte kommt sie nicht hier her!', flehe ich. Die Krankenschwester entfernt sich. Ein erleichtertes Seufzen entfährt mir. Ich husche aus dem Krankenzimmer raus und renne so schnell ich kann den Flur hinab. Den Weg zu meinem Zimmer würde ich blind finden. Ich reiße meine Zimmertür auf und stürme zum Schrank. Welche Tasche? Ich reiße einen schwarzen Rucksack heraus und packe einige Kleider, Hosen, Shirts und Jacken, in den Rucksack. Kurzerhand rolle ich meine Bettdecke zusammen und stopfe sie ebenfalls hinzu. Nach wenigen Augenblicken habe ich das nötigste Zeug zusammen gepackt und renne den Flur hinunter zur Küche. Die Gänge sind leer, klar: Es ist 11:34 Uhr. Die Mädchen haben Unterricht. Ich schleiche in den Speisesaal. Die Frühstückstheke steht noch. Ich schnappe mir eine Gabel und ein Messer, einige Servierten und eine kleine Tüte. In die Tüte stopfe ich Brötchen, Butter und kurzerhand noch Marmeladenpäckchen. Dann nehme ich mir noch zwei Wasserflaschen. Das muss erstmal reichen. Ich verlasse das riesige Gebäude und gehe los. Meine Beine schlugen den Weg zum Stall ein. Nein! Ich kann nicht auch noch ein Pferd mitnehmen. Doch ich gehe weiter zum Stall. ,Egal, ich muss los, so schnell es geht.', denke ich und renne. Die Pferde tänzeln aufgeregt in ihren Boxen. Ich laufe direkt zur letzten Box. Diablo. In Windeseile hole ich ihn hinaus und und rücke einen Sattel auf seinen Rücken zurecht. Er wiehert. ,,Shhhh, bitte. Bitte sei ruhig!", flehe ich. Tatsächlich beruhigt er sich. Ich steige auf und trabe aus dem Stall. Vorsichtig schaue ich mich um. Niemand ist zu sehen. Diablo spürt meine Angst. Er tänzelte wild und versuchte zu steigen. ,,Bitte Diablo, lauf!" Und er galoppierte los. Weit weg. Vor meiner Schuld davon.

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