Kapitel 1

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Die Mädchen sitzen im Aufenthaltsraum und plappern über alle möglichen Themen, andere stehen an den hinteren Regalen und beraten sich über Bücher. Als die Hintertür zufällt verstummen sie augenblicklich. Ich laufe mit gesenktem Blick durch den Raum und an der anderen Seite wieder heraus. Kaum ist die Tür zum Flur zugefallen, kann ich wieder das Plappern hören. Sie tuscheln über mich, schließen Wetten darüber ab, was ich getan habe. Schließlich bin ich mit pitschnassen Kleidern und verkratzten Händen durch den langen Saal gelaufen. Ich weiß, dass ich für die Mädchen hier unheimlich bin. Deswegen habe ich auch nur 2 Freundinnen. Marilyn und Clara. Und selbst bei ihnen hat es sehr lange gedauert, bis wir uns bedingungslos vertrauen konnten.
Als ich endlich auf meinem Zimmer ankomme, ist es schon fast Abend. Ich schließe die weiße Tür und genieße die wenigen Momente Ruhe. Auf St. Dunworley, unserem Mädchen Internat, hat man nicht oft Ruhe. Überall sind kreischende Mädchen und nervige Lehrer und die ständige Beobachtung drückt auch auf mein Gemüt. Und plötzlich laufen mir Tränen über die Wangen. Heiße dicke Tränen. Sie tropfen auf meine geblümte Bettdecke, ich hole mir Taschentücher. Über mir schlägt einfach alles zusammen. Der Druck auf dem Mädcheninternat, mein Verbrechen am Meer, meine Eltern. Ich kann nicht mehr. Plötzlich verspüre ich diesen übernatürlichen Drang, wieder an die Küste zu gehen. Es wird so schlimm, dass ich alle Fenster öffnen muss und mich weit heraus lehne, um die salzige englische Meeresluft zu riechen. St. Dunworley liegt nämlich direkt neben dem Meer. Das war der Grund, warum ich nur hier hin wollte. Meine Eltern mussten mich auf ein Internat schicken, weil sie auf eine lange Geschäftsreise nach Indien mussten und ich konnte solange nicht bei Freunden bleiben. Eigentlich sollte ich nur ein Jahr auf ein Internat, aber als mein Vater von Terrorristen angeschossen wurde, brauchte er Ruhe, und da störte ich natürlich. Also blieb ich ein weiteres halbes Jahr hier. Jetzt bin ich schon fast zwei Jahre hier, da meine Mutter wieder auf eine Reise musste und mein Vater bei seinen Eltern untergebracht ist. Aber ich mag meine Großeltern nicht, sie verhätscheln mich wie ein kleines Mädchen.
Eigentlich hätte ich auf ein Internat in Schottland gehen sollen, aber ich hatte das Klima im Ort nicht vertragen und bin ständig krank gewesen. Also habe ich mich umgehört und St. Dunworley entdeckt. Und diese Schule ist wirklich wunderschön. Aufgebaut wie ein eckiges U und ganz alt. Vier hohe Türme an den Ecken und Enden und unzählige Fenster. Und am allerbesten: Mit Ausblick auf das kalte, regnerische englische Meer, dass ich liebte.

Als ich wieder auf den blauen Wecker schaue, war es bereits Zeit für das gemeinsame Abendessen. Schnell streife ich mir einen Pullover mit dem Schulwappen über. Ich beeile mich, wer zu spät kommt, kriegt unangenehme Strafen.

Das Abendessen verläuft furchtbar unangehnem.Da momentan fast ein drittel aller Schülerinnen auf Klassenfahrt ist, sind wir nur noch ungefähr 200 Schülerinnen. Es ist seltsam ruhig, selbst die Lehrer fühlen sich unwohl. Wenn wir nur so wenige sind, essen sie bei uns. Mein Blick wandert durch die Reihen, ich suche eine ganz bestimmte Person. Aber ich kann sie nicht finden, natürlich nicht. Eigentlich kommt die Nachricht erst jetzt wirklich bei mir an. ,Natürlich wird sie nie wieder kommen. Du bist schuld, du warst es. Aber du kannst es niemandem sagen, das weißt du auch!',flüstert das Teufelchen auf meiner Schulter. Ich kneife die Augen zu, will diese Nachricht nicht hören. Aber ich weiß auch, dass sie recht hat, und das macht mich fertig. Gerade so kann ich mich zwingen, nicht zu weinen. Und dann beendet die Direktorin zum Glück das Essen.
Ich stürme auf mein Zimmer und kann gerade noch die Tür zu schlagen, da laufen auch schon wieder die Tränen. Heiße dicke Tränen.

Lovely like white RosesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt