Kapitel 7

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Marilyn's Sicht

Panik. Blanke Panik breitet sich in mir aus. Clairé hat Daisy umgebracht. Ich renne den Weg zur Felsenküste. Meine Gedanken habe ich verdrängt, ich konzentriere mich nur noch auf den Weg. Endlich entdecke ich den Strand. Die Klasse ist jedoch nicht mehr hier. Natürlich, sie rechnen nicht mehr mit uns. Ich laufe runter an den nassen Sand. Kann das wirklich sein? Könnte Clairé überhaupt jemanden umbringen? Nein. Mein Blick wandert über das Meer, streift den blauen Horizont. Bleibt an den Felsen hängen. Entschlossen schiebe ich mich in die flachen Wellen, laufe über den matschigen Schlick. Ich muss sie retten. Die Strömung reißt mich nach hinten, aber ich bleibe standhaft. Angst durchspült mich, was erwartet mich hinter dieser Wand? Ich gebe mir einen Ruck und schiebe meinen Kopf an dem Felsvorsprung vorbei. Zuerst erkenne ich nichts, außer Algen und alten Nestern. Doch plötzlich fällt mein Blick auf etwas schlammiges, blutverschmiertes Etwas in einem sanften cremefarbenen Ton. Ein panischer Laut entfährt mir. Ich erstarre. Daisy...

Claire's Sicht
Diablo galoppiert schneller und schneller, stürmt über saftige Wiesen und schmale Feldwege. Der Himmel verdunkelt sich immer mehr und schon bald prasselt es auf mich nieder. Ich stöhne. Ich schaue mich um. Wir sind mitten auf einem Stoppelfeld, Diablo tänzelt wie verrückt. Sein Fell liegt klitsch- nass an, Wasser tropft vom Sattel. Mein Kopf dreht sich nach rechts. Strommasten, Berge und weitere Felder. Strohballen. Nebelschwaden. Ich schaue nach links. Bäume, Felder, Strohballen, ein Traktor... EIN TRAKTOR! Dann müssen hier auch irgendwo Menschen sein. Und vielleicht eine Scheune... Ich treibe den Hengst an. Er scheint auch verstanden zu haben, denn er trabt hoffnungsvoll auf den Traktor zu.
Quietschend öffnet sich die Tür. Eine Wolke von Staub bläst mir entgegen. Hustend trete ich ein paar Schritte weiter hinein. Die Scheune ist düster, voller Gerümpel und Stoh. Aber weit und breit keine Menschen. Ich ziehe Diablo aus dem Regen und binde ihn an einen der Dutzenden Stämme, die die dunkeln Balken im Dach tragen. ,,Hast du Hunger?" Ich schaue auf einen Korb Stroh, der auf einer alten Werkbank steht. Wie zur Bestätigung hebt Diablo den Kopf. Ich lache und stelle ihm den Korb hin. Gierig steckt er seine Schnauze ins die staubigen Halme. Ich breite meine Decke auf einem Heu-Haufen aus und kuschle mich hinein. Und schon nach ein paar Minuten sinke ich in traumlosen Schlaf.

Marilyn's Sicht
Im Schlaf wälze ich mich hin und her. Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Warum hat sie Daisy angegriffen, warum war Daisy überhaupt da? Wird sie überleben? Und die schlimmste von allen: Wo ist Clairé?
Als ich vorhin wieder zur Krankenstation gegangen bin, standen drei aufgelöste Schwestern vor ihrem Bett. Und Clairé war verschwunden.
Ich bemerke gar nicht, dass ich zu weinen begonnen habe. Und schließlich weine ich mich dann doch in den Schlaf.

Am nächsten Morgen herrscht das reinste Chaos im Speisesaal. Jeder hat von Clairés Verschwinden gehört, zum Glück weiß jedoch niemand von Daisy. ,,Sag mal, du weißt doch irgendwas, oder?", fragt mich Clara. Ich schüttle den Kopf. Clairé mochte Clara, aber Geheimnisse hatte sie ihr nie anbertraut. Zumindest keine wahren.

In mitten der zweiten Stunde ertönt plötzlich eine Ansage. "Marilyn Keal und Olivia Spendt bitte ins Sekretäriat. Marilyn Keal und Olivia Spendt bitte ins Sekretäriat." Olivia springt erschrocken auf. Auch ich bin nicht wirklich entspannt, trotzdem atme ich ruhig. ,,Geht ihr beiden dann bitte!", mahnt uns der Lehrer und wir verlassen das Klassenzimmer unter tausenden neugierigen Blicken. 
,,Setzt euch." Die kühle Stimme der Rektorin fordert uns auf. Wir setzen uns stumm und schauen sie an. ,,Nun, wie ihr vielleicht mitbekommen habt, ist Clairé verschwunden." Wir nicken. ,,Wisst ihr etwas?", fragt sie streng. Dabei durchbohrt mich ihr kalter, dennoch neugieriger Blick. Olivia schüttelt den Kopf. Ich tue es ihr zögernd nach. ,,Nun gut. Marilyn, geh' bitte nach nebenan und füll' das Formular aus, dass ihr sie gestern hergebracht habt." Ich stehe auf und gehe nach nebenan. Schließe die Tür und bin ganz allein. Der Raum ist klein und kahl. Die Wand ist in einem hässlichen Grau gestrichen, ein Schultisch steht in der Mitte, zwei Stühle um ihn herum. Auf dem Tisch liegen zwei Blätter. Daneben ein Kugelschreiber. Ich setze mich, halte nach Kameras Ausschau. Nein, das hier ist ja kein Gefängnis! Reiß dich zusammen! Ich nehme ein Blatt.
Marilyn Keal, Klasse 8a
Sämtliche Fragen, Uhrzeit, Ort und Situation, als wir Clairé nach Hause gebracht haben. Ob wir auf dem Weg irgendetwas bemerkt haben. Ob wir anderen begegnet sind. Ich fülle es schnell aus und wende mich dann dem anderen Blatt zu. Zeugenaussage.
Ich fülle ein paar Spalten aus, unsicher und nervös.
Plötzlich geht die Tür auf und die Rektorin steht dort. Ich fahre zusammen, stehe dann aber auf und gebe ihr die beiden Blätter. Dann schiebt sie mich vor sich wieder zum Tisch, an dem wir vorhin saßen. Olivia rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. ,,Du kannst gehen." Erleichtert verlässt Olivia das Sekretäriat. Ich werde noch nervöser. ,,Marilyn. Wie hast du Daisy gefunden?" Ich starre nervös auf die Tischplatte. Sie hat doch das Formular. Warum fragt sie dann noch? Sie räuspert sich. ,,Ich..." Ich kann sie nicht verraten. ,,Ich habe meinen Rucksack zu Clara gegeben. Und die war noch bei der Gruppe. Aber ich hatte mein Buch da rein gemacht, also wollte ich ihn wieder holen. Ich wäre wahrscheinlich auch da geblieben. Als ich am Strand war, habe ich gesehen, dass... ach keine Ahnung. Ich weiß es nicht mehr, wie ich sie gefunden habe, aber ist das denn nicht unwichtig?", schrei ich nun schon fast. Die Frau zuckt erschrocken zurück, fängt sich aber schnell wieder. ,,Ja das ist wichtig. Du weißt warum Clairé verschwunden ist, nicht wahr. Tja, mit etwas Logik haben wir es auch verstanden. Ohh, mein Mädchen, sie sitzt im Dreck und nur du kannst ihr jetzt helfen. Wenn du weißt wo sie ist, dann sag es lieber!", brüllt sie und verlässt den Raum. Erschrocken und starr vor Angst sinke ich auf den Boden. Und beginne hemmungslos zu weinen. Schon wieder.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 29, 2015 ⏰

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