Menschen kommen und gehen. Auf jegliche Art und Weise. Obwohl dies ein gängiger Zyklus ist, zelebrieren die Menschen solche Momente. Unabhängig davon, ob man die betroffene Person kennt oder nicht. Allerdings kommt es natürlich immer auf die Fälle an. Wie kann es aber sein, dass ich um die 50% der Leute, die hier anwesend sind, nicht kenne? Es kotzt mich dermaßen an, dass sich hier irgendwelche Fremde oder nicht einmal Menschen, die uns nahe stehen, befinden.
Vor einigen Tagen ist mein Bruder Hanbyeol im Alter von 12 Jahren verstorben. Eine sehr kurze Lebzeit, wenn man bedenkt, dass der Durschnittsmensch über 80 Jahre alt werden konnte. Hanbyeol war allerdings kein durchschnittlicher kleiner Junge. Er ist nämlich nicht "einfach so" gestorben, sondern an Krebs. Man hatte es viel zu spät erkannt, doch die Ärzte gaben alles, um ihn so lange am Leben zu erhalten wie möglich. So quälend, wie es sich anhört, war es auch für ihn. Sich in die Lage eines Krebskranken zu versetzen, ist leichter gesagt als getan. Ich konnte mir zwar vorstellen, welche Schmerzen er erleiden musste, doch ich hatte im Endeffekt nie wirklich ein Mitspracherecht.
Trotz all der Schmerzen und Einschränkungen, mit denen er fortan leben musste, schlug sich dieses Kerlchen echt tapfer. Man würde meinen, dass er daran zusammenbrechen würde, doch das passierte nie. Er ertrug Tag für Tag die Schmerzen, die mit der Zeit immer stärker wurden, er freundete sich mit dem Leben im Krankenhaus an und verlor nie seinen Mut. Mir war es zu Beginn ein Rätsel, aus welchem Grund er alles so auf die leichte Schulter nehmen konnte. Ich an seiner Stelle wäre längst an allem zusammengebrochen und hätte mir wahrscheinlich den Tod gewünscht, ehrlich gesagt. Woher nahm er also all die Kraft und all den Mut, um weiterhin am Leben festzuhalten?
"Haneul Noona?", rief Hanbyeol plötzlich mit einer ernsten Stimmlage nach meinem Namen.
Meinen Blick von dem Fenster nehmend, von dem aus ich die Vielzahl an Heißluftballons beobachtete, drehte ich mich mit einem zarten Lächeln zu ihm um. "Mhm?"
Von seinem Bett aus, das nah am Fenster stand, hatte er ebenfalls eine gute Aussicht auf die Heißluftballons. Fasziniert von ihnen, konnte man das Feuerwerk in seinen Augen sehen.
"Erinnerst du dich an dein Versprechen? Du hast gesagt, dass wenn ich gesund bin, wir zusammen mit Mama und Papa einen Heißluftballon fahren werden. Ich möchte so schnell wie möglich gesund werden, damit ich auch einmal fliegen kann."
Auf seinem Gesicht erschien ein strahlend breites Lächeln. Nickend stimmte ich zu, dass ich mich an dieses Versprechen noch erinnern konnte, dass ich dieses Versprechen ernst meinte.
Ich bekam die Antwort auf meine Frage nach diesem Gespräch. Hanbyeol liebte den Himmel, die Sterne, den Mond, die Sonne und alles, was sich oberhalb der Erde befand. Sein größter Traum war es zu fliegen. Zum Zeitpunkt des Gespräches wollte er unbedingt in einem Heißluftballon mitfahren, die Jahre davor wollte er unbedingt mit einem Flugzeug fliegen. Alle Transportmittel, die sich in den Lüften fortbewegten, wollte er wenigstens einmal austesten. Und damit hatte ich verstanden, wieso er so tapfer war. Dieses Versprechen, wohl eher dieser Traum, er hielt daran fest. Er hatte einen guten Grund am Leben festzuhalten, denn er wollte unbedingt einmal in die Lüfte.
Nun ist er also tot und ich konnte ihm seinen Wunsch nie erfüllen, weil er nie gesund genug war, um mit uns in die Lüfte zu steigen. Letztendlich hatte er die Schmerzen umsonst auf sich genommen. Mein kleiner Bruder war so unbeschreiblich stark und tapfer. Deshalb hat er es nicht verdient, dass solche Leute halbherzig bei der Zeremonie anwesend sind. Keiner von ihnen war an seinem Todestag da, außer Mama, Papa und ich. Wieso ist seine ganze Schulklasse hier, die ihn kein einziges Mal im Krankenhaus besucht hat? Wieso vergießen unsere entfernten Verwandte Tränen, obwohl sie ihn nicht einmal richtig kannten? Für mich war die Anwesenheit solcher Menschen nicht nachvollziehbar. Wie könnt ihr es wagen hier solche Filme zu schieben, ohne meinen Bruder zu kennen?
Nach der Zeremonie im Saal wird wie üblich der Sarg geschlossen und zum Grab getragen. Alle Trauernden und wer auch immer hier anwesend ist, folgen dem Pfarrer zum Grab. Dort führt es seinen Gottesdienst fort, bis der Sarg runtergelassen wird und alle Anwesenden wieder in Tränen ausbrechen. Jegliche Blicke meidend, schaue ich runter zum Boden und falte meine Hände. Nicht, weil ich bete, sondern um mich zusammenzureißen. Am heutigen Tage habe ich noch keine einzige Träne vergoßen. Es scheint herzlos, aber ich weiß viel besser, dass es nicht gut ist, Hanbyeol hinterherzuweinen. Natürlich vermisse ich ihn, doch ich möchte ihm zeigen, dass auch ich stark bin. Bis zum Ende hin blieb er stark, also will ich ihm eine starke Schwester sein. Leicht lächelnd, wende ich meine Augen zurück zum Grab, um ihm klarzumachen, dass es mir gut geht, dass alles gut sein wird.
Nun verstummt der Pfarrer, damit wir Zeit kriegen, uns von Hanbyeol zu verabschieden, indem wir eine Rose in sein Grab werfen. Ich nehme mir vor die letzte zu sein, die ihre Rose in sein Grab fallen lässt. Ich mag den Gedanken nicht, dass irgendeine komische Person die letzte ist. Mama und Papa waren die ersten, die an der Reihe sind. Danach kommt der Rest und zum Schluss ich. Schweigend, sowohl äußerlich als auch gedanklich, verstärke ich den Griff um die Rose. Den Schmerz der Dornen spürend, presse ich fest die Lippen aufeinander.
"Eines Tages werde ich im Stande sein, dich fliegen zu lassen.", murmele ich meine letzten Worte, bevor meine Finger sich langsam von der Rose lösen.
Nachdem ich die letzte verbleibende Rose fallengelassen habe, fangen die Sargträger an, das Grab zu zubudeln. Beiseite tretend, schaue ich ihnen dabei zu, wie sie ihn endgültig von uns nehmen. Dabei vernehme ich recht laute Fußschritte, mit denen ich nicht gerechnet habe. Ich bin davon ausgegangen, dass außer uns, die an Hanbyeols Beerdigung teilnehmen, keiner auf diesem Friedhof ist. Es ist noch relativ früh am Morgen und vorher ist es hier ziemlich leer gewesen, weshalb mich dieses Geräusch irritiert. Verwundert den Kopf erhebend, sehe ich mich um. Meine Augen wandern über den Friedhof, bis ich eine Person entdecke, die deutlich nicht zu uns gehört. Ein Grab weiter bleibt ein Junge stehen, der keine schwarzen Sachen trägt, dafür aber einen Luftballon bei sich hat. Wieso um alles auf der Welt hat er einen Luftballon? Je länger ich den Jungen betrachte, desto mehr fällt mir etwas auf.
"Hanbyeol?", flüstere ich und reiße dabei die Augen ungläubig auf.
Er sieht Hanbyeol ziemlich ähnlich. Fast schon zum Verwechseln ähnlich. Allerdings wie eine fünf Jahre ältere Version von Hanbyeol. Wer ist dieser Junge? Und wie kommt es, dass er wie Hanbyeol aussieht und dann noch auf seiner Beerdigung erscheint?
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Balloon
FanfictionAuf der Beerdigung ihres kleinen Bruders Hanbyeol, der an Krebs verstarb, kommt Haneul sich fehl am Platz vor. Ihrer Meinung nach sind die meisten Anwesenden nur Heuchler, da sie ihren Bruder noch nicht einmal wirklich kannten. Dabei merkt sie gar n...