Mittlerweile ist nun ein Jahr seit Hanbyeols Tod vergangen. Seit seiner Beerdigung bin ich zum ersten Mal wieder auf diesem Friedhof. Ich schließe das kleine, verrostete Tor hinter mir, als mich ein gewaltiger Windstoß von den Beinen reißt. Schützend schließe ich ein Auge und halte mich am Tor fest. Mich überkommt ein seltsames Gefühl, für das ich keine Worte finde. Friedhöfe sind echt gruselig, das kann keiner bestreiten. Es ist eigenartig nach so einer langen, aber auch irgendwie kurzen Zeit wieder hier zu sein. In diesem einen Jahr, das praktisch an mir vorbeizog, ist so einiges passiert. Einiges beeinhaltet sogar, wieso ich heute ganz allein Hanbyeols Grab besuchen gehe.
Mit einem mulmigem Gefühl in der Magengrube folge ich dem Weg, der mich zum Grab weist. Es ist kein weiter Weg, aber auch nicht der kürzeste. Das Grab liegt tief im Kern des Friedhofes. Meine lauten Fußschritte stören die leise, unheimliche Atmosphäre, die um mich herum ist. Anscheinend bin ich die einzige, die sich hier aufhält. Dem Ziel immer näher kommend, sticht mir etwas Interessantes ins Blickfeld. Ohne anzuhalten, laufe ich weiter und richte unauffällig meine Augen auf das, das meine Neugier geweckt hat.
Der Junge mit den hellen, zerzausten Haaren und dem Ballon, der Hanbyeol echt ähnlich sieht, steht wieder ein Grab weiter von Hanbyeols. Äußerlich unverändert, als habe ihn die Zeit nicht geprägt, trägt er dieselben Sachen wie vor einem Jahr. Bis gerade ist der Junge in meinem Gedächtnis in Vergessenheit geraten, doch jetzt, wo ich ihn erneut sehe, kommt mir der Tag der Beerdigung in den Sinn. Nach der Zeremonie sind wir so schnell verschwunden, dass ich gar nicht mehr über diesen seltsamen Jungen nachgedacht habe. Dass er jetzt wieder hier ist, heißt wohl, dass ich ihn mir nicht eingebildet habe. Was ein Zufall, dass er wie Hanbyeol aussieht und sogar in der Nähe seines Grabes steht.
Diesen Jungen ignorierend, mache ich einen großen Bogen um ihn und bleibe vor dem Grab meines Bruders stehen. Er würdigt mich keines Blickes und hat es auch davor nicht. Von der Seite sehe ich dabei zu, wie er den Ballon, den er in der Hand hält, an einem goldenen Ring befestigt, der sich am Grabstein befindet. Ob der Grabstein bewusst so einen Ring hat, damit dieser Junge Ballons daran befestigen kann? Während er das tut, greife ich in meine Handtasche, damit es nicht so aussieht, als ob ich ihn beobachtete, auch wenn es der Fall ist. Aus meiner Tasche hole ich ein Miniatur-Heißluftballon heraus, das ich liebevoll betrachte. Neben mir schließt der Junge seine Augen und fängt an zu beten. Mich nun meinem Bruder widmend, hocke ich mich hin und platziere ich die Figur auf seinen Grab. Genau wie der Junge fange auch ich an zu beten.
Das Gebet beende ich recht schnell, woraufhin ich meine Augen öffne. Das Foto auf dem Grabstein anlächelnd, lege ich den Kopf schief. "Lange nicht gesehen, Brüderchen.", sprach ich gedanklich aus. "Es ist schon ein Weilchen her, dass ich das letzte Mal hier war. Es ist einiges passiert, seitdem du von uns gegangen bist... Papa hat seinen Job gekündigt, was Mama sehr wütend gemacht hat. Du weißt ja, wie Mama immer auf dieses Thema reagiert. Momentan zanken sich die beiden nur noch, weil sie die Krankenhauskosten noch nicht abbezahlt haben... Deinen 13ten und meinen 17ten Geburtstag hast du auch verpasst. An den beiden Tagen nicht ins Krankenhaus zu gehen, war irgendwie... ungewohnt. I-Ich..."
Plötzlich höre ich, wie der Junge sich in Gang setzt, was mich aus unerfindlichen Gründen dazu bringt, mich gedanklich zu unterbrechen. Mich deutlich in seine Richtung drehend, sehe ich, wie er mir den Rücken zuwendet. Ach, geht er nun? Neugierig schaue ich ihm hinterher, wie er den Weg nimmt, den ich gekommen bin. Zu gerne möchte ich diesen Jungen von vorne sehen, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. Ich will unbedingt wissen, ob er Hanbyeol wirklich so ähnlich sieht, wie er es vom Weiten und von der Seite tut. Für einen kurzen Augenblick denke ich, dass ich jetzt wenigstens allein sein kann, um mit mir selber zu reden, ohne dass eine außenstehende Person mich für verrückt hält. Komischerweise sind sich meine Gedanken und mein Körper in der Sache nicht einig, denn ich verlasse den Friedhof schnellstmöglich, um diesem wiederkehrenden mulmigen Gefühl zu entfliehen.
DU LIEST GERADE
Balloon
FanfictionAuf der Beerdigung ihres kleinen Bruders Hanbyeol, der an Krebs verstarb, kommt Haneul sich fehl am Platz vor. Ihrer Meinung nach sind die meisten Anwesenden nur Heuchler, da sie ihren Bruder noch nicht einmal wirklich kannten. Dabei merkt sie gar n...