9th Flight

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"Haneul, was machst du hier?"

Bewusst ignoriere ich Taehyung und kauere weiter auf dem Boden rum. Ich habe mich vorhin vor Hanbyeols Grab hingehockt und meinen Kopf in meinen Armen vergraben. Ich habe Schutz vor der Außenwelt gesucht, um mich meinen Gedanken widmen zu können. Denn Taehyungs Worte verschwinden einfach nicht aus meinem Kopf. Bis jetzt habe ich noch nie über gewisse Momente aus Hanbyeols Lebenzeiten nachgedacht. Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso hat Taehyung mich an all die Schmerzen erinnert? Die letzten zwei Jahre bin ich gut klargekommen, doch er muss ja meinen Frieden stören.

"Du solltest um diese Uhrzeit nicht an solch einem Ort sein."

Er ist derjenige, der mich aufgewühlt hat. Merkt er nicht, was er angerichtet hat? Und dann versucht er noch, mir etwas einzureden?

"Genau dasselbe könnte ich dich auch fragen, Kim Taehyung. Was machst du hier? Und woher wusstest du, dass ich hier bin? Stalkst du mich etwa?", breche ich dann doch nuschelnd mein Schweigegelübde.

Heute Morgen, als ich mit ihm dieses unangenehme Gespräch geführt habe, bin ich anschließend geflohen. Ich wollte ihn nicht mehr hören, geschweige denn sehen. Doch seine Worte, die der Wahrheit entsprechen, geben mir immer noch keine Ruhe. Wie ein Geist suchen sie mich heim. Der Tag ist schnell vergangen, was meine Stimmung nicht verbessert hat. Mein einziger Zufluchtsort, der mir helfen sollte, habe ich jedenfalls gedacht, ist Hanbyeols Grab. Ich bin der Annahme gewesen, Taehyung würde nicht 24/7 auf diesem Friedhof sein. Woher hat er gewusst, dass ich um diese Uhrzeit hier bin? Es gibt schon einige Dinge über Kim Taehyung, die ich nicht verstehe, aber dies hier kann ich mir einfach nicht erklären. Mittlerweile ist es stockdunkel, nichts hier ist beleuchtet, nicht einmal eine Taschenlampe habe ich an, ich bin so leise wie ein Mäuschen und trotzdem hat er mich aus unerfindlichen Gründen gefunden.

Meine Worte ignorierend, redet er weiter auf mich ein. Seine Stimme klingt zunehmend besorgt.

"Wir haben keine Zeit für deinen Dickschädel. Du musst diesen Friedhof verlassen und das umgehend. Um solch eine Uhrzeit solltest du dich hier nie mehr aufhalten, verstanden?", allmählich klingt er recht wütend.

Nein, Taehyung. Ich will verstehen, wie du es geschafft hast, mich so aufzuwühlen. Wieso bin ich über Hanbyeols Tod nicht hinweg? Wieso nimmt es mich stets so sehr mit? Seufzend vergrabe ich meinen Kopf tiefer und stütze meine Stirn an meinen Knien ab.

"Haneul, bitte. Jetzt treiben sich Drogendealer und Junkies auf dem Parkplatz herum. Wenn sie reinkommen und dich entdecken, kann ich für nichts garantieren."

Nun liegt ein Hauch Trauer in seiner Stimmlage. Drogendealer und Junkies, also? Zögernd erhebe ich meinen Kopf und drehe mich zu Taehyung. Obwohl ich weiß, dass es dunkel ist und er neben mir steht, jagt mir sein Anblick einen kleinen Schrecken ein. Ein Friedhof sieht nachts noch gruseliger aus als am Tag. Sogar die Atmospähre ist um einiges düsterer, wenn man es mit dem Tag vergleicht.

"Die Busse fahren nicht mehr und ich bin mit dem Auto hergekommen, das zufällig auf dem Parkplatz steht. Taehyung, ich komme hier nicht mehr weg.", meine ich monoton.

Der Gedanke, dass mir jeden Augenblick etwas zustoßen kann, lässt mich kalt. Da finde ich sogar Taehyungs Gestalt in der Nacht gruseliger als die Junkies. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie selber noch nicht gesehen und gehört habe und ihm demzufolge noch nicht genug Glauben schenke. Noch einmal seufzend, kratzt er sich am Kopf. Für einige Minuten herrscht Stille zwischen aus. Ich vermute, dass er gerade über irgendetwas nachdenkt.

"Mhm, ich bin mir nicht sicher, aber wir hätten drei Optionen. Die erste ist, dass wir schauen, ob die anderen zwei Eingänge frei sind. Das ist allerdings riskant, weil wir nicht wissen, ob sich da jemand aufhält. Die zweite ist, dass wir schauen, ob die Kapelle offen ist und wir uns dort verstecken, was am sichersten ist. Nur wissen wir ja nicht, ob die Kapelle offen ist. Die dritte Option ist, dass wir uns bei der Bank verstecken, wo ich dich vorhin hingeführt habe. Wie du wahrscheinlich gemerkt hast, liegt sie sehr versteckt, vor allem wenn man diesen Ort nicht kennt.", schlägt er mir vor.

Ihn musternd, versuche ich aus ihm schlau zu werden. Es ist schwer seinen Ausdruck zu erkennen.

"Woher wusstest du, dass ich hier bin? Wieso bist du mir dann hergefolgt, wenn du wusstest, dass du dich ebenfalls in Gefahr bringen würdest? Du kennst mich nicht, du hast keinen Grund, mich zu retten und mich zu beschützen."

"Du bist die erste und einzige Person, die mich sehen kann."

Hellhörig verziehe ich das Gesicht, lockere meine Arme und erhebe meinen ganzen Körper. Verwirrt lege ich den Kopf schief.

"Wie meinst du-"

Fußschritte und laute Stimmen lassen mich verstummen. Hörbar klingt es nach Besoffenen, aber wenn Taehyung meint, dass sogar Junkies sind, will ich gar nicht wissen, wie die drauf sind.

"Komm!", befiehlt mir Taehyung, lässt mir allerdings keine Zeit, mich selber für etwas zu entscheiden.

Denn kaum haben diese Worte seinen Mund verlassen, greift er nach meinem Arm und zieht mich mit sich.

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