6. Oktober
Ich vermisse sie.
Verdammt, und wie ich Marie vermisse! Seit der Sache im Wald haben wir uns nicht mehr gesehen und bald ist für verdammt lange Zeit weg. Wie soll ich nur ohne weibliche Nähe die Herbstferien überstehen?
Und dann ist da ja auch noch Clara. Sie hat sich auch nicht mehr blicken lassen, seit sie mit ihrer Mutter hier war. Oder sollte ich sie einfach ansprechen?
Und - Helena. Vielleicht habe ich sie zu hart abblitzen lassen. Sie wirkte doch sehr gekränkt, als ich ihr sagte, dass ich eine Freunde habe und dann ist sie abgezischt und hat sich im Auto eingeschlossen bis alle gefahren sind. Aber ich kann doch nichts mit meiner Cousine anfangen oder? ODER?
Ach, für alle Mädchen, die sich vielleicht nicht in die Situation des Hin-und-her-gerissen-Seins hineinversetzen können, für die habe ich nur zu sagen, dass auch Jungs - gerade Jungs wie mich - so ein Gefühlschaos erleben können. Und, ich will mich hier ja über niemanden stellen, aber ich glaube sogar, dass so eine Situation für Jungs deutlich besch- bescheidener ist als für Mädchen, die zwischen drei oder mehr Jungs entscheiden müssen. Denn, wenn ich ehrlich bin, sind Männer doch die größeren Memmen.
Ja! Ja, ich, Eric der Mauler, habe es zugegeben, aber es stimmt.
Wolle versteht so etwas natürlich noch nicht. Auf ihn trifft dieses Klischee, Jungs seien in ihrer Entwicklung drei Jahre zurück, als einziges Exemplar menschlicher Existenz zu. Wow, gebt euch bitte diesen Satz.
Telefonieren mit Marie vertröstet nur zeitweise, auch wenn ich es liebe, ihre sanfte Stimme zu hören, während ich mit In-Ear Kopfhörern auf dem Bett liege und sie mir ihre kleinen Geheimnisse flüstert. Ich bitte an dieser Stelle übrigens um strengste Diskretion, immerhin handelt es sich hier um meine Memoiren!
Es ist heute ein trüb betrübter Tag, der Tag zieht sich in die Länge wie abgelaufene Kaugummis.
"Triff dich heute doch mal mit Freunden", lautete der geniale Tipp meiner Mutter. "Dein Vater und ich sind heute bei Freunden und kommen erst später wieder." Das wiederrum war ein Heimvorteil, ahaha!
Wenn ich keine Langeweile hätte. Ich weiß nicht, wie oft ich schon in der Küche gewesen bin, nur um zum wiederholten Mal festzustellen, dass Mutter vergessen hat, Chips und wenigstens neue Nuss-Nougat-Creme zu kaufen. Gerade suche ich spärlichen Trost an einem Teller Gewürzgurken und einer Schüssel Cornflakes. In der Glotze läuft auch nur die hunderste Wiederholung der CSI Sendung.
Ich halte es nicht länger aus.
Jetzt gehe ich raus.
Das hat sich gereimt,
ich habe noch nie geschleimt.
Das ist gelogen,
Marie hat mich betrogen.
Moment - STOPP! 'Na, Erleuchtung?' Allerdings...
So Leute, ich muss sofort los. Maries Wohnung muss sich doch wohl im Telefonbuch finden lassen. Ich bin weg. Bis später!
...
Die Zeit, es ist 20:31
Also, kurze Info, was heute ging.
Ich habe tatsächlich Maries Zuhause finden können. Bin mit dem Rad hin, war geschwitzt wie beim Marathon. Bekannte und vielleicht auch Familienangehörige halfen alle beim Verpacken und Verladen von Möbeln und Kisten aller Größen. Marie war nicht dabei.
"Eric?" Es war als spräche Marie in zwanzig Jahren mit mir und als käme sie aus dem Himmel. Eine Frau, elegant und graziös, schlank und fast faltenfrei stand vor mir - riesengroß war sie und nicht nur sie selbst! - und lächelte. "Ist das richtig? Du bist doch Eric, oder?" Es klang etwas nervös.
Einen Moment stand ich einfach nur da, sah nach oben in ihr lächelndes Gesicht - hoffentlich habe ich nicht auch noch gesabbert ('hast du') - und sagte nichts. Erst als sie ihre Frage wiederholte, nickte ich bei dem Wort 'Eric'.
Ich riss mich wieder zusammen und fragte vielleicht etwas zu eilig: "Wo ist Marie?"
Die Mutter sah jetzt aus, als hätte sie tiefes Mitleid mit mir und spürte wie mir in dem kalten Oktoberwind noch die feinen Haare auf meinem Rücken einen kalten Schauer einjagten.
"Sie ist nicht hier. Sie sagte mir, dass sie sich mit einem Jungen treffen wollte, ich dachte, sie meinte dich -"
Offensichtlich nicht. Ich nickte stumm.
Ich glaube, ab diesem Moment habe ich diesen Tick, immer wenn ich nervös bin oder ich nachdenke, die Lippen aufeinander zu pressen und dabei auszusehen wie ein zahnloser Opa, wie ihn Kindergartenkinder nachmachen.
Ich erfuhr von Christina - die Mutter, versteht sich - von einem gewissen Kanadier namens Caleb, den Marie wohl eines Abends flüchtig erwähnt habe.
Ich hatte nicht weiter gefragt, hatte mich bedankt und war gefahren und sitze seitdem in meinem Zimmer. Wieder allein. Allein mit meinen Gedanken und meiner schon fast - Moment - dissoziativen Persönlichkeit, die mir immer wieder zuflüstert, ich sei selbst schuld, denn: 'Wer sich nicht kümmert, der hat's verdient!'
Recht hat mein Unterbewusstsein, Recht habe ich, dennoch; Ich habe nicht wirklich etwas dazu beigetragen.
Knapp fünf Tage her seit dem letzten Treffen und schon ist ein Kanadier besser als ich.
Später rief ich Marie noch einmal an, doch ihr Handy war ausgeschaltet.
Ich war so frustiert, dass ich schon um neun im Bett lag, statt wie sonst in den Ferien um ein oder zwei Uhr des nächsten Tages.
Diese Nacht träumte ich nicht von Wiesen, Wäldern oder Freibädern.
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Der ganz normale Wahnsinn (eine authentische Gesichte über das Leben)
Novela JuvenilEine alte Geschichte, eine der ersten die ich je geschrieben habe und ja... Ein Tagebuch über einen pubertierenden Jungen, der langsam aber sicher lernt, dass das Leben... nicht ganz so ist, wie er es gerne manchmal hätte...