capitulum ūnus

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Gab es eigentlich Gott?
Diese Frage stellte sich die junge Frau jetzt schon zum hunderttausendsten Mal, während ihr Blick auf dem mitternachtsblauen Himmel lag, der von schweren Wolken regelrecht behangen war und ihr so eine düstere Atmosphäre bot, was sich auch auf ihre Gedanken widerspiegelte.
Sie war gläubig, das stand vollkommen außer Frage, doch so langsam aber sicher zweifelte sie an Gottes Existenz.
Er hatte schon so viele Bitten, so viele Gebete die sie in größter Not ausgesprochen hatte erhört. Mit Nichten.
Er hatte zugelassen,
dass ihre Eltern viel zu früh gestorben waren, er hatte sie zu sich geholt, ohne ein einziges Mal zu fragen ob sie damit einverstanden war, schließlich hatte die junge Frau ja noch ein Mitspracherecht und er hatte dies einfach über ihren Kopf hinweg entschieden. Den zweiten Tiefschlag in ihrem jungen Leben setze sie auch auf seine Rechnung. Auf die Liste: 'Dinge die Gott einen Scheißdreck interessiert', denn er war fortgegangen. Der Mann, den sie von ganzem Herzen geliebt hatte, für den sie alles getan und alles gegeben hätte.
Immer noch, konnte sie nach den vielen Jahren, seit er schon nicht mehr an ihrer Seite war, nicht verstehen, warum er diesen Schritt
getan hatte. Warum er sie verlassen hatte um in den Vatikan zu gehen.
Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu, Geschichte der Illuminaten, eine Studentenarbeit, die sie zu korrigieren hatte, als Professorin musste sie sich auch manchmal eher unliebsamen Dingen widmen. Sonst machte ihr das nicht viel aus, doch zu dieser späten Stunde konnte sie ihre Konzentration beim besten Willen nicht zusammenraufen. Diese lief nackt mit einem Cocktail in der Hand über eine Blumenwiese und schien sich einen feuchten Dreck für die junge Frau und ihre Bedürfnisse zu interessieren, da die Gedanken eben dieser immer wieder abschweiften, aber nicht zu einem nicht relevanten Thema, wie zum Beispiel der Abwasch, den sie schon seit Tagen zu erledigen hatte, sich aber einfach nicht aufraffen konnte und er jetzt in ihrer Spüle vor sich hin vegetierte, nein, sondern zu ihm.
‚Vergiss ihn doch endlich verdammte Hacke! Er hat dich bestimmt auch schon längst vergessen, schließlich hat er dich fallen gelassen wie ein unliebsames Spielzeug.', redete sie sich
immer wieder ein, hoffte, dass es die Gedanken an ihn lindern würden, doch genau das Gegenteil war der Fall.
Plötzlich, ohne das sie darauf vorbereitet war, riss sie ein Klingeln wieder in die Realität zurück und die Gedanken verpufften, flogen davon wie eine Wolke im Wind.
Das penetrante Klingeln wollte einfach nicht abebben und so, um nicht auch noch ihren letzen Nerv zu verlieren, schaute die junge Frau sich nun hektisch in dem großen, weitläufigen Zimmer um, sie brauchte Jahre um dieses zu durchschreiten, vier große Schritte und sie stieß mit der Stirn gegen die gegenüberliegende, wirklich harte, Wand. In dem Punkt sprach sie aus Erfahrung. Liebevoll schimpfte sie dieses Zimmer, nein ihre ganze Wohnung: Bruchbude, die Tapete löste sich schon an einigen, wenn auch gut von ihr versteckten Stellen, von den Wänden, die Möbel waren Erbstücke, alt, jedoch keinesfalls marode, sie strahlten immer noch, trotzdem sie jetzt mittlerweile einige Jahre auf dem Buckel hatten, ihren gewissen Charme aus.
Wieder einmal fragte sie sich, warum sie in Gottes Namen diese Wohnung gewählt hatte? Ihre Eltern hatten sehr viel Geld in ihrem Leben verdient, welches jetzt jedoch in der Bank vor sich hin alterte. Sie hätte sich in der nobelsten Gegend ein ganzes Haus kaufen können, doch sie entschied sich dagegen, denn kein Haus der Welt könnte ihr das bieten, was diese Wohnung konnte. Einen Ausblick der Erinnerungen weckte, denn auf dem gegenüberliegenden Häuserdach ein Hubschrauberlandeplatz und jedesmal, wenn dort solch eine Maschine startete, zog dies die junge Frau in längst vergessene Zeiten.
Das nervtötende Geräusch drang auf einmal wieder zu ihr durch und sie erinnerte sich, warum sie überhaupt aufgestanden war.
Jetzt stellte sich jedoch eine Frage dessen Antwort sie beim besten Willen nicht wusste.
Wo war nur ihr verflixtes Handy?
Still stand sie dort, in dem nur leicht beleuchteten Raum, bewegte keinen noch so kleinen Muskel, horchte angestrengt, schüttelte allerdings danach den Kopf, der Anrufer schien sie zur Weißglut treiben zu wollen.
Verwirrt sprang sie plötzlich los, direkt auf einen Haufen zu, der zerknüllt in einer Ecke des Raumes lag und beim genaueren hinsehen als Jacke enttarnt werden konnte und so zückte sie das wild klingelnde Telefon aus einer der Taschen.
„Mia Christine Kirschner", meldete sie sich und erschrak im selben Augenblick über ihre heisere, aufgekratzte Stimme.
„Mia? Hier ist Robert Langdon, du musst mir da bei einer Sache helfen.", ihr langjähriger Kollege und
guter Freund verstummte am anderen Ende und wartete auf eine Antwort ihrerseits. Seit Jahren arbeiteten die beiden schon zusammen, da Robert Mia's Hilfe oft in Anspruch nahm, kennengelernt hatten sich die beiden in der Universität Harvard und Robert war positiv überrascht von der jungen, bodenständigen Frau gewesen, sie war Professorin für Geschichte und Theologie, Fachgebiet Christentum, dabei hegte sie noch eine Interesse, die nicht viele besaßen und betrieben, sie war Hobby Symbologin, wobei sie dieses besser betrieb als viele von Roberts Kollegen und Kolleginnen.
"Beim letzen Mal, als ich dir helfen sollte, hingen wir, sprich du, knietief im Ärger mit der christlichen Kirche.", erinnerte sie ihn und machte eine kurze Pause, was ihren Gesprächspartner darauf schließen ließ, dass sie absagen würde, doch dann ergriff sie wieder das Wort: "Womit kann ich dir dieses Mal behilflich sein?"

Verte - Wende das Blatt (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt