Eiskönigin

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Die Reifen quietschten als sie um die Kurve fuhr. Das Geräusch hallte in ihren Ohren nach wie ein leises Echo. Sie fuhr nicht langsamer, obwohl sie die Geschwindigkeitsbegrenzung weit überschritten hatte und konnte nur an ihre kleine Tochter denken, die nun wohl irgendwo in dieser eisigen Kälte herumwanderte.

Sie sah fast schon vor ihrem Inneren Auge, wie ihr kleines Mädchen erfrieren würde. Einsam und allein, inmitten der weißen Masse, die man auch Schnee nannte würde es liegen. Diese Vorstellung trieb ihr fast die Tränen ins Gesicht und sie umklammerte das Lenkrad fester. Tränen wollten sich einen Weg nach draußen bahnen, doch das konnte sie nun nicht zulassen, weswegen sie sie schnell wegblinzelte, was nicht so ganz funktionierte. Vor allem als sie sich vorstellte, dass ihr Kind ebenfalls gerade weinen könnte. Und das Bild von Tränen, die auf ausgekühlter Haut vereisten gaben ihr den Rest.

Sie stellte das Auto am nächsten Wegesrand ab und beobachtete, wie die Scheibenwischer sich wieder geordnet auf ihren Platz legten. Wenn ihr Leben doch auch so ablaufen würde. Geordnet, ruhig. Diesmal kamen die Tränen und froren tatsächlich, wie in ihren Fantasien, nach kurzer Zeit ein. Kurz verlor sie deshalb die Fassung und blieb stehen, doch in einem Schneegestöber wie diesem war das keine gute Idee, das musste auch sie bald einsehen. Darum stapfte sie los. Sie hinterließ große Stiefelabdrücke, doch das war ihr egal und sie trieb sich immer weiter an. "Schneller, nur ein bisschen schneller", waren die einzigen Gedanken, denen sie Beachtung schenkte. Sie merkte nicht einmal, dass sie schwer schnaufte, was kleine Atemwölkchen aus ihrem Mund kommen ließ, die verdampfen, als hätte es sie nie gegeben. Sie bekam auch nicht mit, dass sie nun am Lieblingsplatz ihrer Tochter angekommen war. Dem Busch mit den roten Beeren. Das einzige was sie wahrnahm war die beißende Kälte auf ihrer Haut, wie tausend Nadelstiche.

Schneeflocken verfingen sich in ihren Haaren, sodass sie vermutlich aussah wie eine Eiskönigin. Und bei diesem Gedanken musste sie lächeln, so hatte auch ihre Tochter sie an diesen unglaublich kalten Wintertagen immer genannt, an denen sie spazierengegangen waren. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie ihrer Tochter oft die braunen Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte und ihr noch einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, bevor sie die Winterwelt verlassen hatten und ins Haus verschwunden waren. Wie ein Abschluss.

Auf einmal erschien alles anderes. Anders, in dem Sinne von merkwürdig seltsam. Die Kälte um sie herum war nicht mehr kalt und der Schnee nicht mehr weiß. Alles schien sich zu drehen wie ein Karussell. Und dann erkannte sie eine braune Haarsträhne im Schnee. Sie lief dorthin ohne zu laufen und sank schließlich in den Schnee. Vor ihr ein Gesicht, fast genauso weiß wie ihr Schal. War sie es? War das echt? Sie drückte einen Kuss auf die Stirn, nur um zu Testen, doch an ihren Lippen konnte sie nur Kälte fühlen. Und Tränen, die ihre Wangen herunterrollten, wie die einer Eiskönigin. Eine Wandlung. Ein Abschluss.

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