Stimmen

161 15 9
                                    

Ich saß in einer Ecke meines Zimmers und weinte mal wieder bitterlich. Mein ganzes Gesicht war tränennass. Für einen kurzen Moment hörte man nur mein verzweifeltes Schluchzen, dann setzten die Geräusche wieder ein. Papa, wie er Mama anschrie. Ein Schlag, noch einer. Mamas erstickter Schrei, ihr Aufprall. Und dann herrschte wieder Stille. Ich stürzte aus meinem Zimmer, ich hatte Angst um sie. Berechtigt. Sie lag auf dem Boden. Leblos, blutig, allein. Mein Vater war gegangen, aber ich wusste, er hatte sie erstochen, er hatte seine Frau, meine Mutter ermordet. Ich brach neben ihr zusammen, legte mich auf sie und horchte, ob ihr totes Herz nicht doch wieder zu schlagen beginnen würde. Doch das tat es nicht.

Das war der Moment, in dem ich sie zum ersten Mal hörte. Die Stimmen. Sie flüsterten mir Dinge zu, die mich innerlich zerbrachen, sie griffen nach meinem Herz und zerdrückten es, brachen es entzwei und spielten mit den Scherben, die noch übrig geblieben waren. "Du bist schuld. Wenn du ihr geholfen hättest, wäre sie nicht tot.", "Sie hat dich nie geliebt", "Niemand braucht dich mehr hier, niemand hat dich je gebraucht!", "Du bist es nicht wert, zu leben." ,"Du hast es nicht mal verdient, zu sterben."

Tag für Tag. Immer das Selbe. Ich aß kaum mehr, ich trank kaum mehr, hörte nur noch den Stimmen zu, glaubte jedes einzelne Wort, lies mich von ihnen verletzen, ohne mich je zu wehren und in mir wurde es immer dunkler. Ich war nicht mehr in der Lage irgendetwas zu fühlen außer Traurigkeit. Ich war am Ende, fertig mit meinem Leben, hatte keinen Glauben mehr. Es gab nur noch zwei Dinge, die ich wusste: Sie war tot und ich war schuld. Diese Tatsachen gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, verfolgten mich bis in meine Träume, wenn ich einschlief. Ich wollte es beenden, doch ich hatte den Tod nicht verdient. Der Tod war viel zu gut für mich.

Eines Tages konnte ich nicht mehr. Auch wenn es eine viel zu milde Bestrafung für mich war, ich holte mir ein Messer aus der Küche. Als ich es genau ansah, ergriff mich ein starkes Verlangen. Ich wollte mir damit ins Fleisch schneiden. Mit zitternden Händen tat ich es. Blut quoll heraus, doch das schreckte mich nicht ab. Ich bemerkte, dass da eine Ader war, an der ich meinen Puls fühlen konnte und durchschnitt sie. Noch mehr Blut floss. Über mein Handgelenk suchte es sich einen Weg, rann über meine Hände und bildete einen kleinen Blutsee. Fasziniert sah ich zu, wie die rote Flüssigkeit aus mir herauslief , bis mir schwarz vor Augen wurde und ich zusammenklappte.

Mir wurde leichter ums Herz und ich beruhigte mich, ich sah mein Leben noch einmal an mir vorbeiziehen. Dann griff jemand nach mir und hob mich sanft aus meinem Körper heraus. Er trug mich fort und ich schmiegte mich in seine Arme. Und ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Das Gefühl, geliebt zu werden.

KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt