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"Tiara", kommt es tonlos aus meinem Mund, ohne es zu wollen. Ihr Name schmeckt säuerlich auf meiner Zunge. Genauso wie abgelaufene Milch. Veraltet. Ungenießbar im Vergleich zur lebendigen Erinnerung an die frische, warme Milch der Kuh. Ihr Name schmeckt ... wie Staub.
Wut und Trauer kämpfen gegeneinander, kämpfen gegen meinen Magen und meinen trockenen Mund, kämpfen gegen die Tränen und gegen mich selbst. Gegen den ungewollten Besserwisserschlumpf aus Omas altem Comicbuch. Den Besserwisser namens Vergebung, namens es-ist-doch-schon-ewig-her, namens ich-gebe-nicht-auf, namens ich-liebe-sie-noch. Irgendwie.
"Tamara." Erneut mein Name.
Ich weiß wie ich heiße! - will ich ihr entgegen keifen. Ich behalte den Gedanken für mich.
"Ja. Ich habe den Brief bekommen." Meine Stimme klingt leer. Wieso bin ich hergekommen?
Tiara scheint zurück zum Leben zu erwachen und auf ihrem geröteten Gesicht wächst ein Lächeln. Ihr Körper öffnet sich, aus der Überraschung erholt und ich habe kaum Zeit zu blinzeln, bevor sie mir um den Hals fällt und ich stolpernd zurücktrete. Ich erwidere die Umarmung nicht, versuche mich zu befreien, schiebe ihre Arme von meinem Hals, drücke sie von mir weg.
"Oh, es tut mir so leid! Es tut mir so unglaublich leid!" Sie tritt von mir zurück, wenn auch nicht viel. Ihre Augen füllen sich mit Tränen und sie steht so hilflos und so klein vor mir, dass mich nun doch das Gefühl überkommt, sie umarmen zu müssen. Ich halte mich zurück, mustere ihre ein Meter fünfzig, ihr gealtertes Gesicht, ihre zahlreichen Muttermale auf der dünnen Haut - viel mehr als ich in Erinnerung habe. Ich mustere ihren schmalen Körper, der dennoch wohl ernährt und gesund zu sein scheint, mustere sie in diesem sommerlichen, hellblauen Kleid und kann es nicht fassen, wie wenig sie sich verändert hat. In zwanzig Jahren.
Sie schluchzt, reibt sich die Nase mit dem Ärmel, sucht Augenkontakt und dieses Mal sehe ich nicht die wunderschöne 21-Jährige mit den wissenden Augen. Auch nicht die schwarzen Löcher, die mich zurück ziehen in den Schmerz und die Kälte, die sie über mich legte, als sie Schluss machte.
Ich sehe eine reife Frau in den 40ern, die mich ansieht, als sei die Welt untergegangen - so, als hätte sie die Welt untergehen lassen. Als sei sie an allem Leid der Menschheit verantwortlich und als hasste sie sich dafür Tag für Tag.
Das graublau erinnert mich an den gestrigen Sturm, nur ohne Befreiung. Tiara mag frei sein, aber sie ist genauso in sich selbst gefangen wie ich. Ihr Blick strahlt das Flehen um Vergebung aus, das ich vorher nicht wahrgenommen habe oder das vorher nicht existiert hat.
Aber ich kann nicht vergeben. Meine Augen bleiben so trocken wie unbeschriebenes Papier.
"Tut mir Leid für den Ausbruch", sagt sie, als sie sich endlich wieder gefasst hat und wischt sich die Tränen aus den Augen. "Ich bin nur so unglaublich froh, dich wiederzusehen. Ehrlich. Ich - ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll ... Denk bitte nicht, ich hätte dich nicht persönlich abgeholt, wenn ich gewusst hätte, wann sie dich frei lassen. Ich - oh Gott! Komm rein."
Sie lächelte mich an und ich kann sehen, dass sie versucht, den Blick abzuwenden von meinem abgemagerten Körper, von der blassen, durchscheinenden Haut, den eingesunkenen Augen, den hervorstehenden Rippen, der angeschwollenen, rechten Augenbraue, ...
Ich nicke automatisch. Es fühlt sich alles plötzlich so irreal an, als sei ich nicht mehr in meinem Körper drin, sondern als säße ich als Beobachter daneben, weit weg von dem Geschehen. Unberührt. Kalt?

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt