8.

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Ich streichele ein letztes Mal die Katze, die sich an meine Waden presst und überquere die Straße. Eine junge Frau - es kommt mir so merkwürdig vor, eine 20-Jährige als jung zu bezeichnen, wo ich die 20 Jahre, die uns unterscheiden nicht wirklich zählen kann und will - eine junge Frau tritt gerade aus dem Haus mir gegenüber und schließt ab, indem sie ihre Hand auf einen flachen Bildschirm legt, der in die Wand eingebaut ist. Als sie sich umdreht schaut sie mich etwas verwirrt an und mustert meine ausgemagerte Figur, das spröde Haar und die nasse Uniform, die an mir klebt.
"Kann - kann ich etwas für Sie tun?", fragt sie. Ihre Stimme ist weich, freundlich. Angenehm.
Ich räuspere mich.
"Ähm, ja. Ich - ich suche das Bürgeramt." Vielleicht finde ich dort irgendetwas über meine Familie oder Freunde oder irgendjemanden, der mir helfen kann, wieder ins Leben einzusteigen.
Die junge Frau nickt wissend und deutet mit der Hand nach rechts.
"Einfach die Straße weiter und nach der Zweiten rechts direkt an der Ecke. Sie können es eigentlich nicht verfehlen, es ist eins der letzten alten Gebäude."
Ich bedanke mich und folge ihrer Anweisung. Meine Schritte sind langsam. Das ganze Adrenalin, die ganze Kraft des gestrigen Tages ist aufgebraucht. Meine Befreiung sah in keinem meiner Träume hiernach aus. Nicht nach Schmutz. Nicht nach Hunger. Nicht nach Verwirrung und Einsamkeit.
Wenigstens sind die Menschen freundlicher, denke ich und kontere sofort: Sie wissen schließlich nicht, was dich ins Gefängnis gebracht hat ...
Ich erreiche endlich das Bürgeramt - das Bürgeramt meiner Kindheit. Ein rotbraunes Backsteingebäude, dessen zahlreiche Löcher und Einkerbungen von Bombensplittern und ähnlichem stammen. Zeuge des Krieges.
Ich trete ein, froh einen bekannten Ort gefunden zu haben. Ein kühler Luftzug lässt mich erschaudern. Der Raum ist genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Noch immer biegen mehrere Türen ab, während im Wartezimmer mehrere Sessel und eine Couch stehen. Auf dem Tisch mehrere Kataloge.
Ich schlucke die Emotionen und Kindheitserinnerungen runter und klopfe an der Tür mit dem Schild: "Auskunft".
"Herein."

Ich erfahre, dass meine Eltern beide an einer Seuche gestorben sind, die kurz vor dem kompletten Neuaufbau und der Renovierung der Stadt ihr Unwesen trieb. Ich empfinde kaum Trauer. So, wie ich sie kenne, hätten sie mich sowieso nicht mehr gewollt. Der Mann am Schalter kennt keinen der Namen, die ich ihm nenne, in der Hoffnung auf den Kontakt zu ehemaligen Freunden. Nichts. Was ist aus ihnen allen geworden?
Mir bleibt letzten Endes nur noch ein Name übrig. Ein Name, der in meinen Gedanken und meinem Herzen herumgeistert, seit ich meine Zelle betreten habe. Ein Name, der mein Vertrauen spätestens  verloren hat, als ich im Gefängnis kein einziges Lebenszeichen erhielt. Dabei wurde mir gesagt, sie sei freigelassen worden und wenn das alles ist, was sie mir jemals erzählt haben. War auch dieser Hoffnungsschimmer, der mich am Leben hielt und zugleich zerriss eine Lüge?
Ich überwinde die Angst vor der Antwort und gebe den letzten Namen an.
"Tiara Vérité"
"Sie hat sogar eine Nachricht für sie hinterlassen."

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt