Kapitel 1

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Habt ihr euch jemals darüber Gedanken gemacht, was wäre, wenn ihr von heut auf morgen taub sein würdet? Wie ihr die Augen öffnet und eure Mum euch tonlos mit Tränen auf den Wangen anschreit und wach rütteln würde? Wie sie euch voller Verzweiflung mustern würde? Wie ihr dann verwirrt da liegen würdet und erst dann kapieren würdet, dass ihr Verschlafen habt, was in diesem Moment eigentlich total irrelevant ist? Nein? Warum auch?

Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass das möglich ist. Am Abend zuvor hatte ich im Halbschlaf ein Knacken gehört. Danach Stille. Ich konnte nur noch ein komisches rauschen hören. Jedoch war ich zu müde, um mir groß darum Sorgen zu machen also schlief ich ein.

Und jetzt... Jetzt wurde ich gerade aus meinem Traum gerissen. Wie ich das hasste! Träumt man einmal was mit Leonardo DiCaprio. Dem jungen Leonardo DiCaprio(!). Ich war gerade dabei, mit ihm die Szenen aus dem Film Titanic nachzuspielen, in der Rose vorne an der Reling steht und Jack sie fest hält. Ausgerechnet dann wurde ich wach gerüttelt. Gezwungenermaßen verließ ich also meinen Traum und öffnete die Augen.

Meine Mum hatte mich an meinen Oberarmen gepackt und schaute mich panisch an. Was war denn mit der los? Warum musste sie mich so unsanft von Leonardo trennen?

Erschrocken sah ich sie an. Hatte es ihr die Stimme verschlagen? Ihr Mund bewegte sich zwar, aber ich konnte nur dumpfe Töne wahrnehmen.

Dann wurde ich panisch. Was ist wenn meine Mum ihre eigentlich so sanfte Stimme immer noch besaß und ich sie nur nicht hören konnte? Nein. Ich musste träumen. Ich hatte nur einen Traum im Traum gehabt. Definitiv! Das musste es sein! Ich und Taub... Pff... Sonst noch was...

Doch als ich die Sorgenfalten, die die Stirn meiner Mum zierten und dann den verzweifelten Blick sah, der sich kurz später von mir abwendete, war ich mir nicht mehr ganz so sicher. Nachdem sie dann einen Pulli aus meinen Schrank kramte und mich aus dem Bett auf die Beine zog, zersprang meine Hoffnung komplett. Ich fasste mir an den Hals und versuchte vergeblich etwas von mir zu geben. Zwar spürte ich das Vibrieren meiner Stimme aber ich könnte nichts davon hören, was ich von mir gab. Hellwach und trotzdem wie in Trance zog ich mir das Oberteil über und schon wurde ich aus meinem Zimmer geschoben.

Ich wollte mir gerade meine Schuhe anziehen als ich plötzlich einfach so mein Gleichgewicht verlor. War ich gerade wirklich zu dumm um zwei Sekunden auf einem Bein zu stehen um mir meine Schuhe anzuziehen ohne mich auf den Boden setzten zu müssen? Als ich mich wieder gefangen hatte, lies ich mich auf der Treppe nieder, um mir dort die Chucks anziehen zu können.

Nicht einmal das knallen der Haustür konnte ich mehr wahrnehmen. Plötzlich bekam ich Angst. Aber so richtig Angst. Nicht so, wie ich sie hatte, als ich mit sechs Jahren von dem Hund meiner Nachbarin überfallen wurde, indem er auf mich zurannte, obwohl er nur gestreichelt werden wollte. Eher so als würde ich in einem Flieger sitzen, der gerade dabei war, über dem Atlantik abzustürzen, was aber keiner mehr verhindern können würde, weil der Pilot gerade vor unseren Augen Suizid begannen hatte. Nein Stopp! Jetzt bloß nicht in Tränen ausbrechen! Alles wird wieder gut!

Mittlerweile war ich ins Auto verfrachtet worden und meine Mum trat auf das Gaspedal. Ich sah mein Leben gerade förmlich nur so an mir vorbei ziehen. Okay ich sah den Bäumen dabei zu, wie sie an mir vorbei zogen aber mein Kopf war gerade nur noch Matsch. Ich wusste nicht mehr was ich jetzt glauben, denken oder machen sollte. Der Tag hatte gerade erst Angefangen und ich war schon am Ende mit der Welt und wollte nur noch zurück in mein Bett und schlafen. So schnell war ich also überfordert?

Gerade wollte ich mich ablenken und drehte das Radio auf. Wow. Super Idee muss man sagen! Sofort sah meine Mum mich mitleidig an als ich frustriert ausatmete, schaltete sie es aus und strich mir sanft über den Oberarm. Ich wollte das ganze immer noch nicht recht glauben. Es war für mich gerade alles so surreal.

Am Krankenhaus angekommen stürmte meine Mum direkt auf die Notaufnahme zu und fing an mit ihren Händen rumzufuchteln, sodass ich schon fast fürchtete, die würde mich gleich schlagen, weswegen ich ihre Hand runternahm. Die machte mich noch verrückt. Ich versuch hier ruhig zu bleiben und sie machte gleich das größte Drama draus.

Eigentlich war ich ja diejenige, die ausrasten sollte. Immerhin konnte ich gerade nichts hören und das fehlte mir jetzt schon!

Normalerweise hörte ich den ganzen Tag Musik, wenn ich nicht gerade selber vor dem Klavier oder an meiner Gitarre saß und gegebenenfalls dazu sang. Nicht einen Tag würde ich es ohne aushalten. Und ich hoffte, dass ich das auch nicht müssen werde!

In diesem Moment wollte ich nur eins. Einen Arzt, der alles wieder gut macht! Und was bekam ich? Eine halbe Stunde Training meiner Selbstbeherrschung nicht sofort einzuschlafen oder auszurasten, weil ich den musternden Blicken meines bärtigen Gegenübers stand halten musste. Er war gerade an meiner kurzen Schlafhose stehen geblieben, als er mich fraglich anschaute. Immerhin hatten wir Herbst und es war eindeutig etwas zu kalt, für kurze Sachen. Sofort zog ich meine Beine an mich und versuchte den Typ so gut es ging zu ignorieren.

Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer nerviger. Dazu kam noch, dass sich zwei Damen geräuschvoll unterhielten. Ich konnte nicht ausmachen, wer was wann von sich gab, ich hörte nur Stimmen wirr durcheinander quatschen. Ich versuchte erst gar nicht weiter mich anzustrengen, Worte herauszuhören. Das bereitete mir schon nach kürzester Zeit Kopfschmerzen.

Endlich kam eine Schwester und rief mich auf. Zwar checkte ich es nicht, aber meine Mam war sofort aufgesprungen und zog mich ruckartig hoch und der Krankenschwester hinterher.

Ein Stockwerk und drei Gänge später verlor ich schon komplett meine Orientierung und kam dann in einem Raum an, in dem ein Arzt gerade seine Instrumente säuberte. Wenn man mich hier in diesem Raum jetzt aussetzten würde, würde ich höchstwahrscheinlich nie wieder hier rausfinden und letztendlich kläglich verhungern.

Zögerlich trat ich ein und die Schwester fing an dem Arzt irgendetwas klar zu machen. Natürlich konnte meine Mum sich nicht zurückhalten und erzählte wahrscheinlich gerade meine halbe Lebensgeschichte.

Als nächstes wurde ich mit einer Handbewegung dann auf den Behandlungsstuhl gebeten und der Doktor untersuchte meine Ohren. Ich hätte ausflippen können. Zwar wollte ich wieder normal hören können und hielt immer noch daran fest, dass genau der Typ, der mir momentan echt etwas zu sehr auf die Pelle rückte, mir helfen könnte, aber was auch immer er mir da hinein tröpfelte, angenehm war das nicht.

Nach der kurzen Behandlung und einigen Tests, in denen ich Töne zu hören bekam und bestimmen musste, aus welcher Richtung sie kamen, wurde es tatsächlich schon etwas besser.

Langsam konnte ich mich, wenn ich mich darauf konzentrierte, einigermaßen gut mitbekommen was mit mir geredet wurde. Die letzten Stunden hatte ich nur verwirrte Blicke verteilt.

„Ähm...", das erste Mal an diesem Tag versuchte ich zu Wort zu kommen.
„Können Sie schon sagen, warum ich bis gerade eben nicht klar hören konnte?" Sofort richteten sich die Blicke auf mich.
„Hallo Tammy, mein Name ist Doktor Hombold.", er reichte mir die Hand. „Schuld an deinen Beschwerden war ein Hörsturz. Ein Vorgang, der auch Infarkt im Ohr genannt wird. Dabei wird die Blutversorgung des Innenohres unterbrochen, wo Gehör- und Gleichgewichtssinn ihren Sitz haben. Normalerweise kommt das nur einseitig vor. Dich jedoch, hat es auf beiden Seiten erwischt. Zum Glück seid ihr noch rechtzeitig gekommen, sodass wir das schlimmste verhindern konnten. Wie du merkst hörst du noch nicht perfekt und ich kann dir leider auch nicht versprechen, dass alles wie zuvor sein wird aber wir werden auf jeden Fall unser Bestes geben."


Das war jetzt genau vor zwei Monaten. In der Zeit hatte ich zwar nach wie vor dieses Rauschen im Ohr, was mir aber nicht mehr allzu viel ausmachte. Ich versuchte einfach es so gut wie möglich zu ignorieren und zu verdrängen.

Am besten war es, wenn ich an meinem Klavier saß und einfach alles um mich herum vergessen konnte. Gerade fing ich an 'Una Mattina' zu spielen als meine Mum reinplatzten musste. Vor Schreck zuckte ich zusammen und löste meine Finger abrupt wieder von den Tasten, was echt ein hässliches Ende darstellte.

Just listen to meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt