Nox
Die Steine waren kalt und warteten, wie es schien, darauf, dass die Sonne wie jeden Tag aufging und sie wärmte. Sonst würden sie ja eines Tages, nach einer langen Zeit unendlicher Dunkelheit zu Eis erstarren, vielleicht sogar bersten. Die ganze Welt wartete und Nox mit ihr in der Finsternis der Nacht, hoffte ein Zeichen der Sonne zu sehen, wie jeden Tag zur Zeit des Sonnenaufgangs. Heute, ja heute noch, würde es ihr gelingen, sie zu sehen, so hatte sie es sich fest vorgenommen. Der Himmel begann sich schon langsam orangerot zu färben und die Farben der Welt wurden langsam intensiver, auch wenn sie alle vom Dämmerlicht getränkt waren. So sehr Nox diese Zeit des Tages auch liebte, so sehr hasste sie sie auch, weil sie wie das Tor in eine unerreichbare Welt schien. Der Tagesanbruch barg die ganze Verzweiflung, die Bemühungen und er schien ihr jedes Mal wieder etwas mehr Hoffnung zu nehmen. Doch noch hatte sie nicht aufgegeben. Und sie wartete. Sogar Schwarz erweichte beim Anblick des Lichts jenseits der Nacht und schien einen Hauch von Orange anzunehmen. Nox' Haare, die eins mit dem Schatten zu sein schienen, begannen sich von diesem zu trennen, bis sie das einzige waren, was man noch als reines Schwarz bezeichnen konnte. Sie waren pechschwarz, glänzten nicht, fast wie die Nacht, ohne jegliches Licht, so leer und stumpf. Sie allein schienen unberührt von dem Farbspiel, das sich vor ihren Köpfen abspielte. Nox' Augen aber waren voller Erwartung, voller Begeisterung und Sehnsucht. Ein lautes Glockenspiel ertönte. Viertel vor sechs! In einer Minute würde die Sonne aufgehen. Erwartungsvoll beugte sich das Mädchen vor und blickte an die hellste Stelle am Horizont. Nicht mehr lange! Eine halbe Minute. Doch dann begannen ihre Augen schwer zu werden. Doch Nox kämpfte verzweifelt gegen den Drang einzuschlafen. Der Himmel wurde heller. 10, 9, 8... Eine Schwäche überkam sie wie ein Schwall. Aber sie musste doch...3,2,1... Ihre Augen fielen zu.
Und schlagartig riss sie die Augen wieder auf. Sie war hellwach. Es schien wie ein einziger Wimpernschlag, ein winziges Blinzeln, aber Nox ahnte schon, dass sich nichts verändert hatte und wahrscheinlich würde sich auch nie etwas ändern. Sie lag auf ihrer Matratze, auf der sie vor einer gefühlten Sekunde noch gesessen hatte und auch der Blick durch die Kunststofffenster gegenüber von ihr bestätigte ihre Vermutung. Der Himmel war rot-orange gefärbt und schien gegen die Dunkelheit anzukämpfen. Nur eine Kleinigkeit war anders, aber eben so entscheidend, wie keine andere. Die Dunkelheit gewann die Überhand und das wenige verbleibende Licht der Sonne war auf die andere Seite des Horizonts gewandert. Die Nacht war angebrochen.
Nox stieß einen Fluch aus und schlug mit der Faust gegen das Fenster. Der Nachhall klang in der ganzen Hütte wieder. Sie hatte es wieder nicht geschafft. Nicht nur das, sie war auch kein klitzekleines bisschen näher an ihr Ziel gekommen. Irgendetwas musste sie falsch machen oder vielleicht auch übersehen haben. Es konnte doch nicht sein, dass es einfach unmöglich war, oder? Es musste eine Möglichkeit für sie geben, die Sonne zu sehen.
Seit Nox denken konnte hatte sie Nacht für Nacht auf die Sonne gewartet. Irgendetwas hatte ihr schon damals gesagt, dass hinter diesem hellen Schimmer, der jeden Morgen und Abend am Himmel zu sehen war, mehr steckte als nur der Mond oder die Sterne. Sie wollte wissen, was es war, wie es aussah, dieses eine Etwas, das sie nicht sehen konnte. So sehr sie es auch wollte.
Als Nox langsam das Sprechen lernte, erfuhr sie auch endlich, wie es hieß. Sie griff es eines Tages in einem Gespräch auf. "Man! Die Sonne ist heute schon so früh untergegangen...Es ist erst fünf Uhr und es ist schon wieder stockfinster!" In diesem so einfachen Satz steckte so viel für Nox. Sie lernte nicht nur, dass sich das Etwas "Sonne" nannte, sie erfuhr auch, dass es Finsternis gab und dass diese nicht da zu sein schien, wenn die Sonne da war. Hieß das, sie lebte nur in dieser Finsternis? Die Begriffe erschienen ihr abstrakt, geradezu unvorstellbar, wie eine Farbe, die man nie sehen kann, aber dennoch da ist, so als müsse man sich Nichts vorstellen. Von dieser Nacht an setzte sich Nox ein Ziel, das ihr Leben prägen würde wie nichts anderes: Sie musste mehr über die Sonne erfahren und sie wollte sie eines Tages sehen. Sie wollte das Unvorstellbare sehen.
Sobald die Nacht anbrach war Nox auf den Beinen, auf der Suche nach der Sonne. Sie streifte durch die Stadt. Das konnte sie am besten. Sie lebte hier schon seit sie denken konnte und hatte sich anfangs ziemlich oft verlaufen, aber mit jedem Mal verlaufen kannte sie sich besser aus und sie fand immer wieder zurück. Mittlerweile kannte sie die Stadt wie ihre Westentasche. Nichts ließ sie mehr ihre Orientierung verlieren. Ihre Recherchemethoden waren zuerst auch nicht die besten. Angefangen hatte sie damit in Richtung Sonne zu wandern. Zunächst rannte sie in Richtung Horizont, merkte aber schnell, dass es wohl eine Weile dauern würde, bis sie ihr Ziel erreichte und sie daher lieber ihre Kräfte sparen sollte. Doch die Nacht war kurz und als die Sonne am Horizont aufging, war sie schon auf einer Bank am Straßenrand eingeschlafen. Als sie jedoch wieder aufwachte fand sie sich in ihrem Bett, in ihrer Dachterrassenhütte, wieder. Der Ort, an dem sie das erste mal in ihrem Leben aufgewacht war und an dem sie jedes Mal wieder und wieder und wieder aufwachte. So merkte sie, dass sie wohl oder übel eine andere Möglichkeit suchen musste, um die Sonne endlich zu Gesicht zu bekommen. Sie lauschte Gesprächen um etwas über sie herauszubekommen. Mit der noch so kleinsten Information war sie schon zufrieden. Doch die anderen Menschen schienen allesamt nicht so interessiert an der Sonne wie sie und deshalb schnappte sie nur selten Neues auf. Wenn sie eben etwas derartig neues herausfand hielt sie es sofort zeichnerisch in ihrem Notizbuch fest. Dort hatte sie schon sehr viele Skizzen angefertigt, wie die Sonne aussehen konnte.
Bis heute hatte ihr das allerdings noch nicht viel gebracht. Weder das Warten noch das Zuhören. Doch heute würde sich das alles ändern. Heute nach acht Jahren stummen Suchens würde sie sich ein Herz nehmen und fragen, das hatte sie sich ganz fest vorgenommen.
... ... ...
Die Straßen im Zentrum der Stadt waren die wenigen, die auch um diese späte Zeit noch voller Menschen waren. Das war der Teil der Stadt, der nie zu ruhen schien und der nie ganz verstummte. Nox liebte dieses Viertel. Die offenen Läden, die Musik, die Shows und Feste, die Leute und vor allem die vielen bunten, flackernden Lichter, die die Nacht erhellten und die Schatten tanzen ließen. Jedes Mal, wenn sie diese sah, fühlte sie sich der Sonne ein Stück näher. Sie war froh, dass sie inzwischen groß genug war, um dieses Leuchtfarbenspiel in vollen Zügen genießen konnte. Früher musste sie immer auf der Hut vor der Nachtwache sein, die Kinder suchten, die Nachts herumstreunten, anstatt zu Hause zu sein. Aber was hätte Nox denn dann tun sollen? Es konnte doch nicht sinnvoll sein, die wenigen Stunden, in denen sie wach sein konnte, zu verschlafen. Wohin würde ihr Leben dann verschwinden? Anstatt in ihrer Dachhütte zu bleiben, konzentrierte sich die kleine Nox also damals lieber darauf nicht von der Nachtwache geschnappt zu werden. Dank dem vielen Fliehen und Verstecken kannte sie jedes Versteck, jeden Schlupfwinkel und jeden Fluchtweg...naja, fast.
Inzwischen zählte sie für die Wache aber anscheinend nicht mehr zu der Altersgruppe mit Ausgangssperre. Und so konnte sie sich frei bewegen, ohne die ganze Zeit auf der Hut zu sein, ohne sich zu verstecken. Ja ganz besonders stolz war Nox auf ihre Arbeit, die sie nun hatte. Es war nicht wirklich etwas offizielles, anerkanntes, aber es gab ihr etwas zu tun, einen Sinn und auch das Gefühl auf eigenen Beinen stehen zu können. Niemand machte diesen Job so gut wie sie. Egal was der Kunde auch wissen wollte, sie beschaffte die Informationen. Sie war noch nicht lange in diesem Job, aber sie hatte einen entscheidenden Vorteil. Egal wie sehr sie die Lichter und die Sonne auch liebte, sie mochte den dunklen, stillen Teil der Stadt genauso gerne wie das Zentrum. Die anderen mieden die Dunkelheit, aber Nox fürchtete sie nicht. Sie gab dem Mädchen etwas, das sie im Licht vermisste: das Gefühl der Freiheit, das sie so sehr achtete und hütete. Doch so gut sie auch im Beschaffen von Informationen war. Was die Sache mit der Sonne anging, ging die Suche nach irgendwelchen Hinweisen nur schleppend voran. Die Sonne war für die Menschen eben kein so wichtiger Gesprächsstoff, wie für Nox, denn sie konnten sie jeden Tag sehen.
Gedankenverloren schlenderte sie durchs Zentrum. Wo und wie sollte sie anfangen nicht mehr still zu suchen? Es schien, als fehle ihr jeder Anhaltspunkt. Sollte sie jemanden fragen? Nein, wenn sie nach der Sonne fragte würde sie sofort als anders abgestempelt werden. Dann wäre sie schnell auf der Liste für potentielle Manics... Und dann hätte sie sicher wieder die Nachtwache am Hals...
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und sie wurde herumgerissen. Hatte die Nachtwache sie etwa erwischt. Nein, die suchten sie doch nicht mehr, oder. "Hey, was machst du so spät noch hier draußen?... Und was ist mit deinen Haaren? So hätte ich dich fast nicht erkannt!" Nox starrte ihr Gegenüber an. Es war ein Junge, schwarze Haare, grüne Augen, vielleicht 18 oder 19. Sie konnte sich beim besten Willen an niemanden aus ihrem mickrigen Bekanntenkreis erinnern, auf den diese Beschreibung passte. "Kenne ich dich?", fragte sie verwirrt. Nein, definitiv nicht, oder? Doch etwas stimmte nicht. Obwohl sie ihm sicher noch nie begegnet war, strahlte er etwas vertrautes aus. Der vertraute Fremde starrte sie an. "Du kennst mich nicht?" Nox schüttelte langsam den Kopf. "Tut mir leid, dann hab ich dich mit jemandem verwechselt... Ich bin übrigens Neo. Neo Merren." Er streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie vorsichtig. "Nox... Einfach nur Nox" "Wie? Du hast keinen Nachnamen? Bist du eine Waise?" "... Kann man so sagen, glaub ich" Er stutzte kurz, dann fuhr er fort: "Wie alt bist du?" Nox wusste nicht warum sie ihm so vertraute, dass sie relativ frei mit ihm redete. "Ich bin ungefähr acht", antwortete sie. "Acht!", er starrte sie entgeistert an, "Du bist niemals erst acht! Ich meine...du siehst zehn Jahre älter aus!"
Aber Nox lebte erst acht Jahre. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie anfing zu existieren, als wäre es gestern gewesen. Auf einmal war sie da gewesen. Sie stand in der Dachhütte und lebte. Das war vor acht Jahren.
Neo musterte sie besorgt. "Hast du vielleicht Amnesie? Ist alles in Ordnung mit dir?" Nox blickte ihn fragend an. Sie wusste nicht was Amnesie war, aber sie wusste, das mit ihr selbst nichts in Ordnung war. Also fasste sie sich ein Herz und fragte: "Kannst du mir von der Sonne erzählen?"
"Von der Sonne?-" Nox wusste, dass es dumm von ihr war zu fragen, aber sie musste es einfach wissen. Neo seufzte. Er war sichtlich verwirrt. Schließlich meinte er: "Warum fragst du da mich. Ich weiß nicht mehr, als dass die Sonne ebenjener helle Feuerball ist um den wir kreisen..." Sie starrte ihn an. Das war definitiv neu für sie. "Aber wenn du mehr wissen willst, komm doch morgen in die Bibliothek meines Vaters", er drückte ihr einen Zettel in die Hand, "Da findest du bestimmt was..." "In die Bibliothek...?", fragte Nox. Sie war noch nie in einer "Bibliothek" gewesen, aber wenn sie dort mehr über die Sonne erfahren würde, dann würde sie dort sicherlich ihr Glück versuchen. "Ok! Danke! Dann komme ich morgen in die Bibliothek!", meinte sie aufgeregt und machte sich schnell auf den Weg zurück in ihre Dachhütte. Vielleicht war sie der Sonne gerade ein Stück näher gekommen...
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Into the Shadows
FantasyDie Zeit nach dem großen Manic-Krieg. Eine Zeit des Zweifels und der Skepsis. Eine neue Zeit bringt neue Geschichten, geschmiedet durch die Vergangenheit und weiterlaufend in die ungewisse Zukunft. Zwei verwobene Geschichten zweier Mädchen. Eine fi...