Lux
Lux fuhr sich verzweifelt durch ihre strahlend weißen Haare. Schon wieder der selbe Traum. Sie hasste und fürchtete ihn. Irgendetwas in ihr hatte wahnsinnige Angst vor diesem einen Traum. Jener, an den sie sich nie erinnern konnte. Aber sie wusste, dass es derselbe war. Dieser eine, der sie neuerdings fast jeden Morgen schweißgebadet aufwachen ließ. Aber woher wusste sie, dass es derselbe war, wenn sie sich nicht an eine klitzekleine Kleinigkeit erinnern konnte? War so etwas überhaupt möglich? Sie griff sich mit beiden Händen hinter die Ohren. Eine alte Angewohnheit... Das machte sie immer um sich neu zu sortieren. Jetzt war keine Zeit um sich mit irgendwelchen seltsamen Träumen auseinanderzusetzen. Moment! Zeit! War sie wieder spät dran? Nein... Es war verdammt nochmal Samstag. Wie konnte sie das übersehen... Es war ja schon fast eine Straftat, an einem schulfreien Tag herumzustressen. Besonders in der Früh! Mit einem Schnaufen ließ sie sich wieder ins Bett fallen. Müde war sie nicht. Das war sie so gut wie nie. Lux starrte aus den Kunststofffenstern des alten Wintergartens. Das rote Licht der Morgensonne wurde an manchen Stellen gebrochen und warf dabei ein interessantes Muster auf den Boden. Es war so einfach und doch wunderschön. Sie liebte die Sonne. Sie beschützte sie vor der Nacht, vor der Dunkelheit. Wenn es die Sonne nicht gäbe, dann gäbe es nur eisige Finsternis, keine Wärme, keine Geborgenheit und kein Leben. Es ärgerte Lux, dass die meisten Leute das nicht zu schätzen wussten. Doch auf sie traf das nicht zu. Nein, ganz sicher nicht. Sie fühlte sich zur Sonne hingezogen, als wäre sie in einem Bann, ja, wie eine Motte, die das Licht sucht. Zufrieden musterte sie den Himmel. Es war perfektes Wetter mit nur wenigen Wolken, und das im Winter. Perfekt! Bei schlechtem Wetter wurde sie immer schnell launisch. Neben ihrem Bett fiepte ihr Handy laut auf. Es war eine Nachricht von Neo.
>Morgen, du kommst doch heute vorbei, oder? (Keine Ausreden, damit das klar ist!) Kat kommt auch. Treffpunkt wie immer, OK?! <
Lux schlug sich gegen den Kopf. Klar! Es war ja Samstag!
>Ja ja ja. Ich komm ja schon. Keine Sorge, ja!<
...
"Treffpunkt wie immer" war eine eindeutige Aussage: die Hausruine im verwahrlosten Teil des Stadtparks. Das war ein regelrechter Geheimtipp. Fast keiner wagte es diesen Sektor des Parks zu betreten. Er wirkte, nun ja, leicht abschreckend. So wusste auch kaum jemand, wie schön es dort sein konnte, wenn man erst einmal diese Hürde hinter sich gelassen hatte.
Den Weg zu den Ruinen zu finden war für Lux ein Kinderspiel. Wie oft war sie diesen Weg schon entlanggelaufen? Sie liebte, wie das Licht durch das verwucherte Blätterdach fiel. Warum kümmerte sich keiner um diesen Teil der Parkanlage? Warum fand man inmitten eines Parks eine Kriegsruine? Sie hatte sich das schon oft gefragt, aber beschweren konnte sie sich nicht. Genau so mochte sie es. Es gab dem Ort etwas mystisches. Einen besseren Treffpunkt hätten die drei nicht finden können.
Vor sich sah Lux das alte, teils zerfallene Haus. Kat lugte durch den Türrahmen mit der fehlenden Tür zum Gruppenraum. "Ha! Gerade nicht zu spät! Und die letzte... wie immer halt", meinte sie grinsend. Lux schüttelte lächelnd den Kopf: "Ja, wie immer... Und du? Geht es dir schon wieder besser? Warst du gestern nicht noch todsterbenskrank?" Der ironisch provozierende Unterton in ihren Worten war deutlich zu erkennen. "Jaja, schon gut, schon gut, ich sag ja nichts. Tut mir ja leid...", reagierte Kat schmollend. "Was?", fragte Lux verwirrt. "Na, dass ich gestern nicht da war... Du weißt schon... Die Präsentation..." Lux drehte sich der Magen um. "Weiß das eigentlich die ganze Schule?" "Ich weiß nicht, Neo hat's mir erzählt...", sie seufzte, "gehen wir erst mal rein, okay?"Bunte Wände, Poster, Graffiti,... Kat, Neo und Lux hatten mit den "Renovierungsarbeiten" echt gute Arbeit geleistet. Früher war die Hausruine drinnen noch trostloser als draußen, jetzt war sie kaum mehr wiederzuerkennen. Was von draußen wie eine unscheinbare, überwucherte und zerfallene Ruine aussah, war in Wirklichkeit total gemütlich und das beste Versteck, das sich die drei überhaupt erträumen konnten.
Neo saß bereits auf der Couch und nippte an seiner Cola. Als er die beiden kommen sah, grinste er: "Dann sind wir also vollzählig!" Lux ließ sich auf ihren Lieblingssessel fallen. Die fast wöchentlichen Samstagstreffen waren eigentlich nur aus Langeweile heraus entstanden. Anstatt alleine herumzuhängen und nichts zu tun, traf man sich eben, um zusammen etwas zu unternehmen oder wenigstens zusammen nichts zu tun. Die Ruine machte das ganze dann auch noch mal ein bisschen interessanter. Das passende Flair durfte eben nicht fehlen.
Kat kramte in ihrer Jackentasche herum. Sie zog etwas heraus und knallte es auf den Tisch. Ein Stapel Pokerkarten. Lux starrte auf den Stapel Karten und dann zu Kat hinüber. "Was schaust du mich so an?! Es war Neos Auftrag!" Jetzt waren alle Augen auf Neo gerichtet. Er hatte eine Krisensitzung eingerufen. Das waren die Karten. Immer wenn es etwas wichtiges zu bereden gab, kamen sie ins Spiel. Im Grunde genommen ging es darum sich in schwierigen Situationen gegenseitig zu unterstützen, aber unter der Bedingung, dass man den anderen gegenüber offen war. Waren die Karten erst einmal auf dem Tisch, musste geredet werden. "Ich glaube, ihr wisst, um was es geht...", meinte Neo. Kat nickte langsam. Auch Lux wusste es. Sie biss sich auf die Unterlippe und murmelte leise: "Ja..." Es ging um Gestern, da war sie sich sicher. Gestern hatte Neo sie noch verschont, jetzt musste sie reden.
Die Regeln waren im Grunde einfach. Man stellte sich gegenseitig Fragen, der Gefragte zog daraufhin eine Karte und je höher die Zahl auf der Karte war, desto genauer und korrekter musste die Antwort sein. Jede Frage durfte nur einmal gestellt werden. Bei manchen bestimmten Karten durfte man auch "legal" lügen, wenn man wollte.
Lux hatte heute gar keine Lust befragt zu werden. Kat und Neo würden sicher nicht gemein sein, das wäre gegen den Sinn des Spieles, aber das Thema war ihr zuwider.
Sie hatte einfach das Verlangen sich unter Vorwand zu verdrücken. Schnell auf die Toilette zu huschen würde ihr wenigstens etwas Zeit verschaffen, in der sie sich vielleicht ein etwas beruhigen könnte, aber mehr auch nicht... Sie wollte gerade aufstehen, als ihr Blick in Richtung Korridor fiel. Da stand ein kleiner Junge von etwa zehn Jahren. Seine Kleidung war verdreckt und leicht zerrissen. Aber es war Lux, als sollte sie ihn kennen. Woher? Nervös schaute er um die Ecke und beobachte Kat und Neo, die noch über das Spiel diskutierten. Dann, plötzlich, traf sein Blick auf den von Lux und er er hielt inne. Er löste sich langsam von seinem Türrahmen und trat einen lautlosen Schritt ins Zimmer hinein, wobei er den Blick nicht von Lux ließ. Den Kopf hielt er schief, als würde ihm dies beim nachdenken helfen.
Kat und Neo hatten ihn auch bemerkt und starrten ihn verblüfft an. "Was machst du hier, Kleiner?", fragte Kat und ging dabei in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu stehen. Doch er ignorierte sie völlig und ging stattdessen auf Lux zu. Knapp vor ihr hielt er inne und lächelte sie erleichtert und sanft an. "Du bist groß geworden, ich hätte dich kaum noch erkannt, Schwester. Gut, dass ich dich gerade hier treffe. Scheint, als wären die Götter mal ausnahmsweise auf meiner Seite." Er warf einen nervösen Blick hinter sich. Lux schaute ihn verwirrt an. "Schwester? Was meinst du...?" Der Junge schaute etwas enttäuscht drein. "...Du weißt es also noch nicht..." Er senkte seinen Blick. Irgendetwas in Luxs Kopf rebellierte. Woher kam er ihr nur so bekannt vor? Woher kannte er sie? Wieso nannte er sie Schwester? War er vielleicht...? "Wie auch immer, das tut nichts zur Sache. Hauptsache ist, dass du wohlauf bist... Naja, vielleicht ist es auch besser so..." Er warf einen weiteren nervösen Blick hinter sich. Irgendetwas schien ihm zu schaffen zu machen. "Du, Lux? Kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er, eher geflüstert, als gesprochen. Lux erstarrte. Woher kannte er ihren Namen? Der Junge trat nervös von einem Bein aufs andere. Es schien dringend zu sein. "Ja klar. Was gi-" Ein lautes Krachen war von draußen zu hören. Der Junge zuckte bei dem Geräusch zusammen. Dann wandte er sich wieder an Lux. Angespannt legte er einen Finger auf seine Lippen und schaute sie verzweifelt an. Dann schlich er an Lux vorbei und versteckte sich hinter ihrem Lieblingssessel. Einen Sekundenbruchteil später hörte Lux, wie die Eingangstür knarrzte. Es folgten Schritte im Flur, dann kamen auch schon drei Männer um die Ecke geschossen und starrten die drei Jugendlichen durch den leeren Türrahmen hindurch an. Drei Männer von der Nachtwache. Was wollten die hier. Es war noch lange nicht Nacht, also wieso patrouillierten sie hier? "Was macht ihr drei hier?", fragte einer der drei skeptisch. Seine Stimme war sehr tief und klang unter der Maske sehr blechern.
"Wonach sieht's denn aus?", antwortete Neo, "wir spielen Karten." "Habt ihr drei hier einen kleinen Jungen gesehen? Einen entlaufenen Manic?" Ein Manic? Lux musste sich überwinden nicht zu dem Jungen hinüberzuschauen.
"Nichts dergleichen", entgegnete Lux, wobei sie sich extrem bemühen musste, gelassen zu wirken, "Kein Schwein verirrt sich hierher...". "Sie können gerne auf eine Runde Karten bleiben, wenn sie möchten...", meinte Kat. Lux bewunderte sie für ihren kühlen Kopf. Die drei Nachtwachen waren offensichtlich in Eile und würden so nie für ein Kartenspiel bleiben... Kats Aussage schien die drei dementsprechend von der Unscheinbarkeit der drei Freunde beim Kartenspielen zu überzeugen. "Entschuldigung, aber das geht nicht. Wir müssen weiter." Sie gingen so schnell wie sie gekommen waren.
Als es sicher war, kam der Junge wieder hinter dem Sessel hervor und atmete erst mal tief durch. "Danke Schwester und danke auch an euch." Er verbeugte sich tief vor Kat und Neo. "Du hast gute Freunde, Schwester. Sehr gute." Er strahlte Lux an. "Und du? Wie heißt du?", fragte Lux neugierig. "Ich bin Exo" "Und du bist ein Manic?" "Ja, das kann man wohl sagen..." Sein Blick wurde kurz traurig, hellte aber gleich wieder auf. "Wenn ich euch noch mehr Fragen beantworte... kann ich dann dafür hier bleiben?"
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Into the Shadows
FantasyDie Zeit nach dem großen Manic-Krieg. Eine Zeit des Zweifels und der Skepsis. Eine neue Zeit bringt neue Geschichten, geschmiedet durch die Vergangenheit und weiterlaufend in die ungewisse Zukunft. Zwei verwobene Geschichten zweier Mädchen. Eine fi...