Nox
Nox stand stolz und mit großen Augen vor der "Bibliothek". Kaum war die Nacht angebrochen, war sie so schnell es ging aufgesprungen und hatte sich auf den Weg gemacht. Den Zettel des Jungen Namens Neo hatte sie gerade mal zwei Leuten zeigen müssen, um hierher zu finden. Die Fassade war alt und mit vielen Verschnörkelungen und Säulen verziert. Die "Bibliothek" stand direkt an der Ecke zur Hauptstraße und Nox war bestimmt schon mehrere tausend Male daran vorbeigelaufen, hatte aber nie gewusst, das das Gebäude "Bibliothek" hieß, geschweige denn was darin vor sich ging. Nicht, dass es sie nie interessiert hätte. War die Sonne etwa da drinnen? Nein, das wäre zu einfach! Aber dort drinnen schien es, nach dem Jungen Neo, wohl etwas zu geben, das sie näher an die Sonne bringen könnte, oder etwas, das ihr mehr über die Sonne erzählen könnte.
Für eine Weile stand sie vor dem Eingang und ließ die Bibliothek auf sich wirken. Dann schluckte sie und trat einen Schritt vor. Die alte Holztür war schwer und quietschte, als sich Nox gegen sie drückte, um sie zu öffnen. Auf der anderen Seite hörte sie das leise Klingeln einer Glocke. Hinter der Tür brannte Licht, ein sanftes, warmes Licht, wie das einer Kerze. Nox liebte diese Art von Licht. Das viele elektronische Licht wirkte oft viel kälter, aber als sie die Wärme sah, die das Licht ausstrahlte, verflog ihre Aufregung ein wenig. Vorsichtig setzte sie einen Fuß in den Raum vor ihr und sie fuhr erschrocken zusammen, als die Tür hinter ihr mit einem lauten Knall zufiel. Weiter rührte sie sich nicht, dann was sie sah, raubte ihr den Atem. Überall um sie herum standen Regale, vollgestopft von oben bis unten. Mit Büchern. Bunte Bücher, alte Bücher, neue Bücher, kleine Bücher, große Bücher, Bücher, die schon durch viele Hände gewandert waren, Bücher, die schon zerfielen, Bücher in allen Ausführungen und Umfängen. Bücher soweit das Auge reichte. Das war eine "Bibliothek". Nox war überwältigt von ihrem Ausmaß. Nicht nur das, sie glaubte auch zu wissen, was Neo damit gemeint hatte, dass sie hier Antworten finden konnte. Dann traf es Nox tief. Es gab ein Problem bei der ganzen Sache. Wie sollte sie...
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Kann ich Ihnen helfen, junges Fräulein?". Ein älterer Mann kam hinter einem Regal hervor. Er hielt einen Stapel Bücher in der Hand. Sie drehte sich zu ihm um, nicht wissend, was sie antworten sollte. Der Mann stockte kurz und musterte sie. "Das ist ja sehr interessant", meinte er mit seinem fasziniertem Lächeln, "Diese Ähnlichkeit..." Nox starrte ihn verwirrt an. "Ah, entschuldigen Sie, junges Fräulein, wo sind meine Manieren. Also, suchen Sie etwas bestimmtes?" Anstatt zu antworten, wich sie einen Schritt zurück. Sie war mit einem Mal wieder unsicher. War es eine gute Idee gewesen hierher zu kommen? Aber alles was sie jetzt noch tun musste, war zu fragen, oder? Was hinderte sie jetzt noch daran? Die Glocke klingelte leise und der Mann drehte sich zur Tür. "Willkommen zurück, Neo", rief der alte Mann, "Hast du die Post dabei?" Der Name ließ Nox aufblicken. Der Junge von gestern stand in der Tür, ein paar Briefe in der Hand. Seine grünen Augen starrten zu ihr herüber. "Du bist also gekommen...", er lächelte, "Die Sonne, oder? Ein ungewöhnliches Thema, aber da finden wir hier sicher etwas." Nox nickte kurz und hastig. Sie wollte es wissen, koste es, was es wolle. Diese Sonne, sie musste alles über sie erfahren. Neo winkte sie mit der Hand zu sich, dann nickte er dem alten Mann zu "Danke, Opa. Ich übernehme ab hier." Der Alte zuckte kurz mit dem Schultern und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Neo führte Nox durch die vielen Regalreihen. Er schien nach einer speziellen Abteilung zu suchen. "Wozu brauchst du die Informationen? Ein Referat?", fragte er, während er die Regale durchsuchte. "...Referat?" Nox wusste nicht, was er damit meinte. Sie wollte aber auch nicht, dass Neo merkte, dass sie keine Ahnung hatte. Würde er sie dann auch so seltsam anstarren? Das war auch der Grund, weshalb sie allgemein nicht sehr gerne mit anderen Menschen redete. "Nein!...Es ist nicht für ein Referat...", versuchte sie sich aus der Situation herauszureden und hoffte dabei inständig, dass Neo nichts gemerkt hatte. "...Also nicht für ein Referat... Ah-" Er stoppte vor einem Regal und fuhr mit der Hand über die Buchrücken. Bei einem hielt er inne und zog es heraus. Es hatte einen rotbraunen Einband und die Seiten waren vergilbt. "Da hätten wir schon mal eins...", meinte er und legte Nox das Buch feierlich in die Hand, um sich anschließend wieder dem Regal zu widmen.
Nox starrte auf das Buch in ihrer Hand. Es war dick, schwer und kalt. Ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte nur selten ein Buch in der Hand gehabt. Ein paar hatte sie einmal in ihrem Zimmer gefunden. Bunt, dick und dünn und mit vielen Zahlen und Buchstaben drinnen, aus denen sie nicht schlau wurde. Aber die vielen Bilder und Zeichnungen begeisterten sie immer wieder. Sie stockte. Was wenn dieses Buch in ihren Händen ihr nicht weiterhelfen würde? War es eines jener Bücher, in denen es nur Zeichen gab? Nein, das durfte nicht sein! Dann wäre sie keinen Schritt weitergekommen. Ihr war mit einem Mal kalt und sie begann zu zittern. Nein, es war nicht die Kälte, es war die Angst und der Schock. Wovor hatte sie solche Angst? Sie wollte das Buch nicht öffnen. Sie wollte nicht erfahren, wie es zwischen den alten Seiten aussah. Sie wollte nicht herausfinden, dass es für sie nutzlos war. Aber trotzdem legte sich der Schatten ihrer Hand um den Einband, als könnte er eben das, was die Hand selber nicht zu tun wagte: es aufschlagen.
"Stimmt etwas nicht?", fragte Neo und riss Nox damit aus ihren Gedanken. Sie löste ihren Blick von dem Buch. Neo hatte einen Stapel Bücher gesammelt und starrte sie besorgt an. "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen..." "Nein... Mir geht es gut", meinte sie kurz, konnte sich aber selbst nicht davon überzeugen. Er nickte kurz und ging in Richtung des großen regalfreien Platzes in der Mitte. Schließlich drehte er sich zu Nox um. "Kommst du oder willst du die Bücher im Stehen durchschauen?" Sie stockte kurz, dann nickte sie und folgte ihm.
Sie ließen sich an einem kleinen Holztisch nieder. Neo hatte die Bücher auf dem Tisch gestapelt. Waren all diese Bücher über die Sonne? Wussten alle so viel über die Sonne, wie in den Büchern stand? Alle außer sie selbst? Nox fühlte sich dumm und idiotisch. Sie war geradezu besessen von der Sonne, das wusste sie. Und das obwohl, oder gerade weil sie fast in Unkenntnis ertrank.
Neo hatte das oberste Buch vom Stapel genommen und aufgeschlagen. Es war jenes rotbraune , das Nox eben noch in der Hand gehabt hatte. Beim Anblick der vielen Buchstaben wurde ihr schlecht. Es gab keine Bilder oder hübsche Zeichnungen, nur Wörter über Wörter, die sich zu vielen für Nox völlig undefinierbaren Fragezeichen zusammenfügten. Nervös schaute sie zu den restlichen Büchern hinüber. Waren alle anderen auch so? Würde sie auch hier keine Antworten finden. Ihr war, als wolle irgendetwas sie um jeden Preis daran hindern auch nur irgendetwas über die Sonne zu erfahren. Sie schluckte, dann griff sie sich drei Bücher vom Stapel und begann sie schnell durchzublättern, auf der Suche nach nur irgendeinem Anzeichen für ein Bild. Aber da war keines. Nicht ein einziges. Keine neuen Informationen. Es schien ihr, als wäre die Sonne mit einem Mal viel ungreifbarer und ferner. Ihr nervöses Zittern wollte wieder einsetzen, aber sie musste es unterdrücken. Man durfte nicht merken, wie unfähig sie war. So viel Stolz hatte sie immerhin. Sie hob den Blick zu Neo hinüber. Er schien vertieft in die vielen Bücher, die er extra für sie herausgesucht hatte. Seine Augen huschten über die Seiten, sogen das Wissen, das in dem Papier steckte, regelrecht auf. Er begriff, was dort stand. Neo konnte das, was sie nicht konnte. Er konnte das, was sie im Moment mehr wollte als alles andere. Sie wollte schon immer die Schrift verstehen. Aber nie zuvor hatte sie es so sehr gebraucht wie jetzt. Jetzt, wo es um die Sonne ging, jetzt wo sie so nah dran war. Und sie war neidisch auf Neo und alle anderen die einen Sinn in dem Buchstabengewirr fanden.
Abrupt stand Nox auf. Ihre mattschwarzen Haare hingen ihr halb ins Gesicht. "Was ist los? Bist du wirklich OK?", fragte Neo vorsichtig. Nox kniff die Augen zusammen, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, und biss sich nervös auf die Unterlippe."Kannst du mir beibringen, wie man liest?"
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Into the Shadows
FantasyDie Zeit nach dem großen Manic-Krieg. Eine Zeit des Zweifels und der Skepsis. Eine neue Zeit bringt neue Geschichten, geschmiedet durch die Vergangenheit und weiterlaufend in die ungewisse Zukunft. Zwei verwobene Geschichten zweier Mädchen. Eine fi...