II Sonnenuntergang

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Lux

"Hey, Lux, wach auf! Du kommst zu spät!" Lux wurde unsanft wachgerüttelt. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Gut, es war schon hell. Neben ihr kniete Ella. Sie war wie eine kleine Schwester für sie. Ella kam immer zu ihr hoch um sich Luxs Geschichten anzuhören. "...Wie spät ist es?", maulte Lux verschlafen. "Zu spät! Du schaffst es echt immer wieder zu verschlafen!" Lux raffte sich auf. Für ein ordentliches Frühstück war wohl keine Zeit mehr... Sie packte schnell ihre Schultasche, rannte hinunter ins Erdgeschoss, schnappte sich schnell ein Brot aus der Küche, meldete der Heimleiterin, dass sie sich jetzt aufmachte und verschwand durch die Tür. Die Bushaltestelle war zum Glück gleich um die Ecke. Gerade als sie sie erreicht hatte, kam auch schon der Bus um die Ecke getuckert. Noch vom morgendlichen Zu-Spät-Sprint außer Atem stieg sie in den Bus und versuchte möglichst nicht zu fertig zu wirken. Suchend hielt sie nach einem geeigneten Sitzplatz Ausschau. Da! Ein Sitzplatz bei dem niemand vor, hinter oder neben ihr hockte. Sie mochte es nicht, wenn irgendwelche fremden Leute um sie herumsaßen. Dann holte sie einen Skizzenblock heraus und begann zu zeichnen. Ihre Zeichnungen waren immer düster und mysteriös. Sie mochte es so. Horrorfilme, Thriller, Krimis...alles. Auch wenn sie selbst wusste, dass sie in Wirklichkeit eher feige war. Vielleicht mochte sie die Filme deshalb so sehr. Damit sie endlich mit ihrem Trauma zurechtkommen konnte...
"Wer ist das?" Sie drehte sich um. "Morgen, Neo! Das ist niemand bestimmtes... nur ein Mädchen, das gegen gigantische fleischfressende Killer-Burger kämpft..." Neo musste lachen. "Was denn? Das passt doch, oder... Irgendwie krieg ich bei dem Bild nur die düstere Atmosphäre nicht hin..."  "Vielleicht liegt das ja am Thema... Man kann kein ernstes Bild über Hamburger malen", er grinste breit. Lux kannte Neo schon seit der Grundschule. Sie hatten immer alles mögliche angestellt. Nicht nur das, er war auch einer der wenigen, der Lux' Geheimnis kannte. Nur drei Leute kannten das Geheimnis: Neo, Kat und Lux selber. Nur Neo und Kat kannten Lux so gut. "Wo ist Kat?", fragte Lux. "Gute Frage. Vielleicht krank...oder sie hat wieder den Bus verpasst...oder... Es hat sie...aufgefressen", dabei bemühte sich Neo möglichst viel Dramatik in seine Stimme zu legen. "Hör auf mich damit aufzuziehen! Das ist acht Jahre her, OK?" "...Was aber nicht heißt, dass du schon drüber hinweg bist." Das stimmte. Lux war noch lange nicht darüber hinweg. "Ach was, da bin ich schon ewig drüber hinweg" "Ja, ja, sicher doch", meinte Neo und lachte, "Ach ja, du wirst nicht glauben, was mir gestern passiert ist! Man sagt doch es gibt sieben Menschen auf der Welt, die einem ähnlich sehen..." "Ja, und?" "Ich hab gestern jemanden getroffen, der dir zum verwechseln ähnlich sieht. Wirklich komplett...bis auf die Haare, die waren pechschwarz..." "...Also im Klartext... Du hast mich mit einem Mädchen verwechselt, das schwarze Haare hatte? Kannst du Schwarz nicht von Weiß unterscheiden? Sogar ein Farbenblinder könnte das!" "Sehr lustig! Aber sie sah wirklich genauso aus wie du. Sogar ihre Stimme... Naja, sie war wohl etwas freundlicher als du..." "Hey!" Lux boxte ihm leicht auf die Schulter und beide begannen zu lachen. Die Vorstellung, dass da irgendwo ein Mädchen rumlief, das ihr so ähnlich sah, dass sogar Neo sie mit Lux verwechselte, war verrückt. Hatte sie eine Zwillingsschwester? Ganz auszuschließen war das ja nicht. Immerhin kannte Lux ihre Familie nicht. Nein, dann wären die Haare nicht so verschieden. Sie fuhr sich durch ihre schneeweißen Haare, die im Licht schon fast selbst zu leuchten schienen. Dabei waren ihre Haare ja nicht immer so gewesen... "Es beschäftigt dich also! Ich wusste es!", Neo musterte sie und lächelte selbstzufrieden. "Wie hieß sie?", fragte Lux und versuchte ihre Neugier mit einem kühlen Blick zu überspielen. "Nox." Dieser Name. Sie hatte ihn noch nie gehört, aber er schien doch natürlich zu klingen, klar, wie etwas, das man vor sich hatte... "Lux und Nox...", Neo schielte grinsend zu ihr herüber, "Klingt ähnlich, oder? Weißt du, wenn ich so drüber nachdenke... ist schon doof von mir dich verwechselt zu haben... Ich meine...du, unterwegs in tiefster Nacht..." Lux wurde blass. Nacht. Es war nur ein Wort, aber doch bedeutete es Lux viel mehr. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. An jenen Tag. Dunkelheit. Das Quietschen der Tür... Es. Die Nacht. Die Nachtluft. Angst. Soviel Angst. "Lux, bist du in Ordnung?... 'Tschuldigung ich hab das Tabu-Wort gesagt... Es war keine Absicht...es ist mir einfach so rausgerutscht. Ich-" "Schon gut. Ich bin in Ordnung. Ich bin doch schon lange drüber hinweg...", Lux versuchte zu lächeln, auch wenn sie wusste, dass Neo sie durchschauen würde.
... ... ...
Lux verbarg ihr Gesicht in ihren Merkzetteln. Nervös tippte sie mit dem Zehenspitzen auf dem Boden herum. Sie hasste Referate. Und der Lärmpegel im Klassenzimmer störte sie beim vorbereiten. "Die Anfänge des Manic-Krieges" Sie seufzte. Das Thema hatten sie in der Schule schon mindestens zweimal abgeklappert. Manic-Krieg hier, Gefahr da, die große Katastrophe dort. Es nervte Lux einfach nur noch. Und natürlich hatte sie das Thema bekommen. Kat hätte heute auch halten müssen, was wahrscheinlich auch der Grund war, warum sie "krank" war.
Die Tür knarzte und Lux fuhr panisch hoch. Frau Engerer! Jetzt blieben ihr noch höchstens fünf Minuten bis zu ihrem Referat. Hastig kramte sie den Holo-Stick aus ihrem Schulpack hervor. "Aufgeregt?", fragte Neo sie und grinste sein Grinsen. "Ach, wo denkst du hin... Ich und aufgeregt..." Lux setzte ein nervöses Lächeln auf. "Du schaffst das schon! Keine Sorge!", meinte Neo aufmunternd. "Ja, ich werde schon nicht dabei draufgehen..." Ihr Blick schweifte nach vorne zu ihrer Geschichtslehrerin, die verzweifelt versuchte die Aufmerksamkeit ihrer Schüler zu erkämpfen. Jetzt hob sie ihre Stimme ein wenig. Sie klang so heiser wie immer. "Lux, würdest du bitte nach vorne kommen?" Beim Klang ihres Namens sprang Lux reflexartig auf. Alle Augen der Klasse waren nun auf sie gerichtet. So viel zu ihrem Vorhaben, möglichst gelassen zu wirken. Sie hielt kurz inne, dann ging sie nach vorne, den Holo-Stick fest in der rechten Hand umklammert, die Notizen in der linken. Sie stellte den Stick auf dem Boden ab und drückte den Anschaltknopf. Das Gerät begann zu Summen und um Lux herum begannen sich bunte Bilder, zunächst flackernd, zu projizieren. Die bunten Lichter reflektierten sich ein wenig in Lux' schneeweißem Haar. Mit einem Mal beruhigte sich ihr Herz ein wenig. Sie war wie ausgewechselt. Dann wandte sie sich an ihre Klassenkameraden und begann zu reden. Über den Krieg, die Manics und was sonst noch so dazugehörte. Sie merkte nicht mehr, über was sie eigentlich redete. Ihr Mund bewegte sich und sie war von diesem Moment an mehr Zuhörer, als Erzähler. Sie mochte das Thema nicht. Immer wenn es um die Manics ging verursachte es ihr ein wenig Unbehagen, als wäre dort noch mehr dahinter. Bloß was? Sie wusste es nicht.
"Gibt es noch Fragen?", hörte sich Lux fragen und fluchte innerlich auf. Genau das hatte sie sich vorgenommen am Ende nicht zu fragen. Aber jetzt lagen ihre Worte schon in der Luft, fast schwerelos schwebten sie durchs Klassenzimmer. Eine Hand schoss hoch. Lux atmete auf. Gut, nur eine Frage. "Ja, Maren?" "Woher wissen wir, dass alle Manics so sind?" Lux stockte. "Wie sind?", erwiderte sie langsam. "Na so... böse?" Gute Frage, dachte Lux. Konnte dies aber unmöglich aussprechen. Es war die Frage, die sich Lux schon lange gefragt hatte. Die unaussprechliche Frage nach dem Warum. Sie stand vorne, vor der gesamten Klasse, wie versteinert, tief in ihre Gedanken zurückgerissen. In jene Nacht vor acht Jahren. Das maskierte Kind... und Es. Ihre Hände begannen kaum merklich zu zittern. Ja, das maskierte Kind. Sie war sich fast sicher: Es war ein Manic gewesen. Aber wenn das wahr war... es schien so normal, so menschlich, ganz und gar nicht so, wie es immer alle erzählten und wie es im Internet und in zahlreichen Büchern stand. Alles schien wie eine einzige riesige Lüge, ein riesiger Schatten, wie die Nacht. Lügen, alles Lügen. Sie erzählten Lügen. Lux erzählte Lügen... Gerade eben in ihrem Referat. Dabei war sie doch selbst so überzeugt, dass nichts davon der Wahrheit entsprach, auch wenn es acht Jahre her war, auch wenn sie sich alles nur eingebildet haben könnte. Wie konnte sie einfach so lügen, mit diesem unberührten Gesichtsausdruck. Immerhin hatte das maskierte Kind ihr damals das Leben gerettet. Ein heller Schimmer huschte über Luxs rote Augen. Sie war panisch. Sie konnte unmöglich antworten. Sonst... Sie blickte sich um. Alles machte sie nervös. Die teils verwirrten, teils belustigten Blicke der Mitschüler. Der besorgte Gesichtsausdruck von Neo. Die wild flackernden Hologramme um sie herum. Die genervte Lehrerin, die immer wieder einen Blick auf ihre Armbanduhr warf und dabei hektisch mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopfte. Der Sekundenzeiger der Klassenuhr. Er schien langsamer als sonst, als wolle er nicht, dass die Zeit endlich vorbei war.
Als der Gong ertönte wusste Lux nicht mehr, wie lange sie dort vorne gestanden hatte. Wenigstens war sie der Frage so entgangen. Sie merkte, wie die enorme Spannung von ihr abfiel, wie ein Seil, das ihr um die Seele geschnürt war und sich endlich lockerte. Es war eine seltsame Art von Erleichterung, besonders angesichts der Tatsache, dass sie sich soeben vor der ganzen Klasse zum Affen gemacht hatte. Naja... Für einen Psychiater würde das ganze seltsame Verhalten heute sicher nicht reichen. Ein solcher würde Lux gerade noch fehlen.
Für den ganzen restlichen Schultag musste sie Neos teils besorgten, teils mitleidigen Blick ertragen und war ihm dankbar, dass er sie nicht darauf ansprach. Sie hasste es bemitleidet zu werden. In solchen Situationen wollte sie einfach nur mit ihren Gedanken allein sein. Auch wenn sie wahrscheinlich ohne Neos Anwesenheit schon längst durchgedreht wäre. Ja, Neo und Kat hatten sie immer unterstützt, ohne dämliche Fragen und ohne sie in irgendeine Richtung zwengen zu wollen. Dafür war sie den beiden zutiefst dankbar. Sie hatte es ihnen nur noch nie gesagt... aus Stolz.
... ... ...
Lux starrte besorgt aus dem Fenster. Ihre weißen Haare fielen ihr über die Augen, in denen sich das orangerote Licht der Sonne spiegelte. Die Uhr vorne im Bus zeigte abwechselnd 16:45 und 3,4 °C. Neo hatte Lux' Blick bemerkt und lächelte zu ihr hinüber. Sie hatten seit der Präsentation nicht mehr miteinander gesprochen."Keine Sorge", meinte Neo, "du schaffst es noch rechtzeitig. Im Winter ist das immer ein bisschen doof... besonders, wenn wir lange Schule haben..." Lux löste sich von dem Fenster und drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck wirkte fast ein wenig traurig. Manchmal hatte er diesen ganz speziellen Gesichtsausdruck. Lux wusste nie warum. Sie nickte langsam und versuchte ein wenig zu lächeln. Irgendwie war sie auch froh, dass sie sich nicht den ganzen restlichen Tag angeschwiegen hatten. So ein blödes Referat sollte ihnen doch nicht den ganzen Spaß verderben.
Der Bus stoppte. Es war Neos Haltestelle. Jetzt war Lux alleine im Bus. Sie starrte zur orangeroten Sonne. Neo hatte recht. Es war noch ein wenig Zeit da, auch wenn es wohl knapp werden würde. Der Bus hielt schließlich auch an ihrer Bushaltestelle. Und da rannte sie auf der Flucht vor der Dunkelheit. Zum Waisenhaus. Die Nacht würde sie auch dieses Mal nicht kriegen. Sie schlang ihr Abendessen hinunter und sagte noch schnell Gute Nacht zu Ella und den anderen. Sie rannte die Treppen hoch, noch höher, dann schlug sie erleichtert die Tür ihres Wintergartens zu und ließ sich erschöpft im Schlafanzug aufs Bett fallen. Durch die zahlreichen Fenster fiel das Licht der untergehenden Sonne. Der Wintergarten war anfangs immer leerstehend gewesen und Lux kam auf die Idee sich hier ihre Geheimbasis einzurichten. Als das Waisenhaus jedoch zu voll wurde, wurde der Wintergarten ihr dauerhaftes individuelles kleines Reich. Beim Gedanken daran konnte sie nicht anders als zu lächeln. Das alles hatte sie sich selbst aufgebaut. Es war ihre Existenz. Und die Sonne warf ihre letzten Strahlen durch den Wintergarten, durch Lux' Existenz.
Obwohl Lux wusste, dass nichts passierten würde, zitterte sie ein bisschen beim Anblick des schwachen Sonnenlichts. Es würde so sein wie jeden Abend. Sie würde kurz die Augen schließen und wenn sie sie wieder öffnete, würde es wieder sicherer Tag sein. Während die anderen noch ein wenig in der Dunkelheit umherirrten, würde sie sicher schlafen. Sie wollte die Nacht nie mehr sehen, nie mehr, nicht seit jenem Tag. Und so kniff sie schnell die Augen zusammen, bevor die Dunkelheit sie einhüllen würde.

Into the ShadowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt