Ein ungewöhnlicher Fund

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Die Sonne stand hoch am Himmel und schickte ihre wärmenden Strahlen zur Erde, doch der ewigen Kälte des Nordpols hatten sie nichts entgegenzusetzen. Wie ein unbewegliches Meer aus gefrorenem Wasser erstreckte sich die weite weiße Ebene, nur durchbrochen von einzelnen schneebedeckten Hügeln. So wie sie aussahen, konnte man vermuten sie wären einst Wellen gewesen, gerade im Begriff zu brechen, als die Kälte sie vor langer Zeit mit ihren eisigen Händen ergriff und auf ewig erstarren ließ.
Jack liebte die Landschaft hier. Ihre Schönheit zeigte sich ihm immer wieder aufs Neue, immer in anderen Facetten, als würde sich das weiße Meer doch bewegen. Nie würde er genug davon bekommen. Das traf sich gut, da er sie ja auch dank seiner Unsterblichkeit für immer und ewig betrachten konnte.
Die Unsterblichkeit war nichts Neues für ihn, doch er konnte es immer noch kaum fassen nun ebenfalls ein Hüter des Lichts zu sein. Vor einer Weile wäre das noch undenkbar gewesen. Jahrhundertelang war er umhergeirrt auf der Suche nach einem Sinn seiner Existenz und nach 300 Jahren hatte er ihn endlich gefunden. Das Lachen. Das Lachen, die Freude, der Spaß, das war sein Innerstes. Insgeheim hatte er es schon immer gewusst, jedoch nie wirklich wahrgenommen. Doch nun wurde es ihm jeden Tag bewusst, wenn er das Lachen in den Gesichtern der Kinder sah. Er wollte dieses Gefühl nie wieder missen müssen.

Jack war tief in Gedanken versunken, als sein Freund der Wind begann, an seinem dunkelblauen Kapuzenpullover zu ziehen, als wollte er ihm etwas mitteilen. Ohne zu zögern, griff Jack nach seinem gewundenen Stab. Ein einfacher Gedanke genügte und er befand sich nicht länger auf festem Boden. Ein Jubelschrei entfuhr ihm, als er immer höher und höher stieg und sein kühles Herz begann schneller zu schlagen, wie jedes mal wenn er scheinbar schwerelos durch die Lüfte flog.
Der Wind ließ ihn wie immer nicht im Stich. Er hieß ihn willkommen, indem er ihm durch das schneeweiße Haar fuhr, ihn mit eisigen Böen umwirbelte und ihm winzige Flocken ins Gesicht blies.
Lachend fing Jack eine von ihnen aus der Luft und schloss behutsam seine Finger um den kalten Kristall, nur um sie gleich darauf wieder zu öffnen und seinen Fang genauer zu begutachten.
Leichter als eine Feder schmiegte sich die zarte Schneeflocke an seine kühle Handinnenfläche. So wie all die anderen vorher schmolz auch sie nicht, dennoch war sie irgendwie anders. Besonders. Neugierig beugte sich Jack weiter vor, um sie besser betrachten zu können.
Wie ein kleines Kunstwerk erschien ihm der schimmernde Eiskristall, nur dass kein Künstler auf der Welt jemals eine solch makellose und präzise Arbeit hervorgebracht hätte.
Der Winter ist eben immer noch der größte Meister seiner Kunst!, überlegte Jack schmunzelnd.
In perfektem Einklang bildeten die eisigen Zweige Muster und Formen, die sich anmutig miteinander verwoben.
Wunderschön, dachte sich Jack im Stillen und versuchte, sich diesen Anblick für immer einzuprägen. Sanft blies er in seine Hand, sodass die winzige Flocke emporschwebte, wo sie auf seinen Fingern zu tanzen begann.
Doch plötzlich streckte der Wind seine unsichtbaren Hände nach der Schneeflocke aus, entriss sie Jack und wirbelte sie davon.
"Na schön, ich nehme die Herausforderung an!", raunte Jack. Er tat so, als würde er Anlauf nehmen, um dann in rasantem Tempo den tanzenden Schneesternen hinterherzujagen.
Bald hatte er sie eingeholt, umkreiste sie, flog durch sie hindurch oder ließ sich einfach von ihnen treiben, wobei er ausgelassen lachte.
Schließlich fand er auch die Schneeflocke wieder, die ihm der Wind geraubt hatte. Er versuchte nach ihr zu greifen, doch immer wenn seine Fingerspitzen sie fast berührten, schlug sie einen Haken und wehte in eine völlig andere Richtung. Obwohl Jack immer schnellere und wendigere Kurven flog, bekam er sie einfach nicht zu fassen.
Erst als sie plötzlich in ihrer Bewegung stoppte und senkrecht gen Boden schwebte, sah Jack seine Chance gekommen. Gekonnt wechselte er in den Sturzflug und schloss seine Faust um den eisigen Stern, bevor er den Boden erreichte und im weißen Meer versank.
"Geschafft!", rief Jack triumphierend und reckte seine Faust in die Luft, "Niemand macht dem Wintergeist etwas vor, nicht einmal der Wind selbst!", rief er in die stille Landschaft hinein.
Erst da bemerkte er, dass er keinen Schimmer hatte, wo er sich gerade befand. Seine ausgelassene Verfolgungsjagd hatte ihn an einen völlig unbekannten Ort geführt. Neugierig sah er sich um. Er stand anscheinend auf einem Hügel, welcher sich in der Mitte eines Tals befand. Leichtfüßig stieß er sich vom Boden ab, um sich von oben einen besseren Überblick zu verschaffen. Doch auch von dort konnte er keine bekannten Formationen ausmachen. Er hatte diesen Ort noch nie gesehen.
Der große Hügel in der Mitte der Senke erregte seine Aufmerksamkeit. Er schien eine gewisse Art von Wärme auszustrahlen. Wärme?
Jack flog näher heran und begann mit dem Ärmel seines Pullovers einen Teil des Schnees zu entfernen. Zum Vorschein kamen Eisblöcke, dicht aneinander gesetzt, sodass sie anscheinend eine Kuppel bildeten. Dahinter zeichneten sich verzerrte, unkenntliche Schemen ab.
Doch er wollte nicht Jack Frost heißen, wenn er mit einem solchen Problem nicht fertig würde!
Sanft hauchte er seinen kühlen Atem auf das Eis und es klarte auf, sodass Jack endlich sehen konnte, was sich hinter der eindrucksvollen Wand befand. Was er erblickte verschlug ihm dem Atem. Seine Kinnlade klappte herunter und seine Faust öffnete sich, sodass die darin befindliche Schneeflocke davonwehte. Doch Jack bemerkte es nicht einmal, sondern starrte weiterhin auf das Innere der Kuppel.
Darin befand sich... ein Baum?

Verwirrt blinzelte Jack mehrmals, doch das absurde Bild vor seinen Augen änderte sich nicht.
Ein Baum am Nordpol? Jack hätte beinahe laut losgelacht. Dieser Anblick war einfach zu komisch!
Zu gern hätte er sich das ganze aus der Nähe angesehen, aber wer auch immer diese Kuppel errichtet hatte, wollte das darin befindliche schützen, sonst hätte man sich die ganze Arbeit sparen können. Doch Jacks Neugier war geweckt. Er beschloss zu North zu gehen, schließlich sollte dieser alles über den Nordpol und seine Bewohner wissen.
Und so machte er sich auf zu Norths Hauptquartier, um den Weihnachtsmann nach diesem seltsamen Gewächs zu befragen. Er konnte es kaum erwarten.

Die Wächter der JahreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt