Die erste Zeitreise

186 8 0
                                    

Unruhig wälzte sich Jack hin und her, doch er konnte beim besten Willen nicht einschlafen. Zu viel war in den letzten Stunden geschehen.
Erst dieser seltsame Baum, dann Norths dunkle Vorahnung und nun auch noch die Prophezeiung des Kristalls, die er erfüllen sollte!
Jack hätte es als einen absurden Traum abgetan, als einen von Sandys Scherzen, wenn da nicht das Stundenglas gewesen wäre.
Hastig drehte sich Jack zu seinem Nachttisch um, als befürchtete er, doch nur geträumt zu haben oder den Verstand zu verlieren. Aber das Stundenglas ruhte unverändert an seinem Platz und schimmerte in blass bläulichen Licht. Er konnte nicht aufhören, es fasziniert anzustarren.
Schließlich setzte er sich auf und nahm es vorsichtig in die Hand. Es war in silbernes Metall eingefasst, in dessen Boden eine große Schneeflocke eingraviert war. Das kühle Glas bestand aus filigranem Eis, robust und zerbrechlich zugleich. Es auf seiner Haut zu spüren, bestätigte ihm endgültig, dass er noch bei klarem Verstand war, gleichzeitig warf es jedoch nur weitere Fragen auf.
Ob man mit damit wirklich in der Zeit reisen kann?
Bei diesem Gedanken begann Jacks Herz schneller zu schlagen. Trotz Norths warnenden Worten verspürte er in diesem Moment nichts als Aufregung und unendliche Neugier.
Wenn die anderen Hüter mit ihrer Vermutung richtig lagen, würde ihm eine Tür offen stehen, die allen anderen zuvor verschlossen geblieben war.
Ich müsste es ausprobieren, nicht dass die anderen sich in etwas reingesteigern, das es gar nicht gibt!, entschied er, Norths warnende Stimme in seinem Hinterkopf geflissentlich ignorierend.
Nun musste er nur den richtigen Schlüssel für diese Tür durch die Zeit finden!
Eindringlich betrachtete Jack das Stundenglas von allen Seiten, doch es gab weder einen Knopf noch einen Hebel, keinen versteckten Zauberspruch oder sonst etwas hilfreiches. Jack hielt das Amulett an das Glas, schüttelte es sogar, doch die Schneeflocken darin bewegten sich keinen Millimeter.
Wie bitte benutzt man dieses Ding?
Frustriert steckte er das Amulett zurück zu dem Blatt in seiner Pullovertasche, stütze sich auf seinen hölzernen Stab, studierte das Glas erneut von oben und unten, jedoch ohne Ergebnis.
Enttäuscht wollte er Stab und Glas auf sein Bett legen und sich gerade daneben setzten, als das gewundene Holz mit der gravierten Schneeflocke aus Silber in Kontakt kam und Jacks Zimmer verschwand.

Lichtlose Dunkelheit umfing ihn und es war seltsam kalt. Nicht die Kälte, wie sie Schnee und Eis innewohnte. Es war die Leere, die diese eigenartige Kälte ausstrahlte. Jack konnte es nicht mit Worten beschreiben.
Er konnte nicht einmal seine eigene Hand vor Augen erkennen, wäre da nicht das Stundenglas in seiner Hand. Es erstrahlte in seinem silberblauen Licht, als trüge es den Mond selbst in sich.
Was jetzt? Jack hatte sich die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, wie er das Stundenglas nutzen konnte und nicht wofür!
Wohin würde ich gehen, wenn ich der Zeit zurückreisen könnte?
Ein Bild blitzte in seiner Erinnerung auf und schlagartig bewegte sich die Finsternis um ihn - oder er sich?
Doch Jack hatte sich geirrt - Zeitreisen glich in keinster Weise dem Gefühl von Freiheit, das er jedes mal verspürte, wenn er flog.
Im Gegenteil - es war als wäre er erneut vom tintenschwarzen, eiskalten Wasser des Sees umgeben, in dem der Mann im Mond in wieder auferstehen lassen hatte. Nur dass dieses mal nicht das hoffnungsspendende blaue Licht an der Oberfläche auf ihn wartete. Um ihn herum gab es nichts als alles verschlingende Finsternis.
Nun bekam Jack doch ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.
Was wenn ich hier nie wieder herauskomme? Wenn ich auf ewig in diesem Nichts gefangen bin, wo mich niemals jemand finden kann?
Angst machte sich in seinem Herzen breit und fraß sich hinauf bis zu seiner Kehle, wo sie ihm die Luft zum Atmen nahm.
Ihm war, als würden düstere Finger nach ihm greifen, ihn hin und herzerren, doch immer wenn er versuchte sie abzuschütteln, war da nichts.
Ich kann das nicht!, dachte er verzweifelt.
Da fiel sein Blick auf das Stundenglas, welches unermüdlich sein sanftes Leuchten ausstrahlte. Die winzigen Schneeflocken hinter dem eisigen Glas schwebten scheinbar schwerelos von unten nach oben.
Jack konnte gar nicht ausdrücken, wie dankbar er für diesen Anblick war. Er hatte etwas Tröstendes an sich.
Der Wintergeist richtete seine Konzentration ganz auf das Innere des Glases und schirmte es, so gut es ging, von der gierigen Dunkelheit um es herum ab. Auch als er aus dem Augenwinkel einen winzigen fernen Lichtschimmer wahrzunehmen glaubte, wagte er nicht aufzusehen, aus Angst er könne verschwinden.
So löste er seine Augen nicht von dem Stundenglas, bis sein Gesicht plötzlich in frisch gefallenen Schnee tauchte.
Und in dem Moment, in dem die Finsternis verschwand, begann die erste Schneeflocke im Glas zu fallen.

Die Wächter der JahreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt