Zwei Schwestern

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Nachdem er hunderte Male den schneebedeckten Boden mit Küssen übersät hatte, richtete Jack sich auf und sah sich um.
Sein Herz schlug schneller - er kannte diesen Ort! Die bezaubernd schöne Weide, deren wiegende Zweige mit gefrorenem Tau besetzt waren, der selbst im gedämpften Licht funkelte. Die mächtigen Eichen, deren starke Wurzeln sich in die Erde gruben, wie Hände. Den kleinen und doch tiefen Weiher, dessen gefrorene Oberfläche verführerisch glänzte.
Es hat wirklich funktioniert!
Aufgeregt drehte er sich um sich selbst, beobachtete die Umgebung genau, doch der kahle Wald um ihn herum gab kein Lebenszeichen von sich.
Unruhig lief er im Schnee hin und her - still sitzen und warten war das letzte, was er jetzt konnte!
Die Zeit verging und immer mehr Schneeflocken fanden ihren Weg nach unten auf den Boden des Stundenglases, doch nichts geschah.
Jack war sich ziemlich sicher, dass er gehen müsste, wenn sich keine Flocke mehr im oberen Teil befand. Seine Zeit lief ab.

Nach einigen Stunden vergeblichen Wartens stieß sich Jack vom Boden ab und ließ sich von der kühlen Winterluft tragen.
Ein letzter Hoffnungsschimmer keimte in ihm auf - was wenn er sich nur ein wenig in der Zeit verschätzt hatte?
Er wollte schon in die Richtung fliegen, die sein Herz ihm wies, als er erneut vom schmerzenden Biss des Zweifels erfasst wurde.
Was bitte erhoffst du dir Jack? Selbst wenn sie dich sehen kann, was willst du ihr sagen? Dass du sie wieder verlassen musst?
Enttäuscht machte er kehrt und ließ sich auf einem Baum nieder und verfiel in grüblerische Gedanken, als ihn ein fernes Lachen plötzlich daraus hervorriss.

Das Lachen wurde immer lauter, je näher Jack dessen Quelle kam.
Als die Bäume bereits spärlicher wurden ließ er sich in Richtung Boden sinken und landete am Waldrand, nahe einer jungen Tanne.
Auf der schneebedeckten Fläche vor ihm spielten zwei Mädchen, das eine vielleicht elf, das andere etwa acht Jahre alt.
Obwohl sie völlig unterschiedlich aussahen, konnte Jack darauf wetten, dass sie Schwestern waren. Die ähnlichen Gesichtszüge und die blauen Augen ließen keinen Zweifel daran zu.
Die kleinere der beiden besaß rotbraune Haare und trug ein hellgrünes Kleid mit passenden Stickereien. Dicke dunkelgrüne Handschuhe und ein magentafarbener Umhang schützten sie vor der winterlichen Kälte. Dennoch waren ihre Wangen rötlich gefärbt.
Die blonden Haare ihrer großen Schwester waren zu einem schlichten Zopf geflochten und sie trug nichts anderes anderes als ein eisblaues Kleid, dennoch schien sie nicht im geringsten zu frieren.
Merkwürdig.
Die beiden hatten einen Schneemann gebaut, welcher die Kleinere um einen Schneekopf überragte.
"Mh, irgendetwas fehlt noch! Aber was?", fragte die Blonde gespielt grüblerisch und verschränkte geheimnisvoll die Hände hinter ihrem Rücken.
"Ich weiß es! Ich weiß es!", verkündete ihre jüngere Schwester aufgeregt, indem sie ungeduldig auf und ab sprang, "die Nase!"
"Aber natürlich! Wie konnte ich das nur vergessen?", erwiderte die Ältere gespielt bestürzt und zog lächelnd eine orangene Karotte hinter ihrem Rücken hervor.
"Darf ich sie anstecken? Darf ich?", bettelte die Braunhaarige.
Zur Antwort drückte ihre Schwester ihr die Karotte in die Hand und hob sie hoch, damit die Kleine das Gemüse im Gesicht des Schneemanns platzieren konnte. Zufrieden betrachteten die beiden ihr Werk.
"Wir müssen ihm einen Namen geben - jeder ordentliche Schneemann braucht einen Namen!", entschied die Blonde.
"Ich will ihn... Olaf nennen!"
"Na schön - guten Tag Herr Olaf!" Eifrig schüttelte die Blonde die hölzerne Hand des Schneemanns, was ihre kleine Schwester in ausgelassenes Kichern verfallen ließ.
Auch Jack konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Als sich die Braunhaarige wieder beruhigt hatte, sah sie ihre Schwester erwartungsvoll mit großen Augen an: "Elsa, ich wünsche mir so sehr, dass es schneit!"
"Aber es schneit nicht, Anna", erwiderte diese kopfschüttelnd.
"Du weißt genau, wie ich das meine!", empörte sich die Kleine, "bitte, Elsa, lass es schneien, bitteee!", flehte sie ihre Schwester an.
"Na gut, aber nur weil du es bist!", gab diese zwinkernd nach.
Sie konzentrierte sich auf ihre Hände, als hielte sie darin einen kostbaren Gegenstand. Jack fragte sich gerade, was das für ein seltsames Spiel sein mochte und trat ein Stück hinter dem Baum hervor, um besser sehen zu können.
Auf einmal erschien zwischen Elsas Fingern eine Kugel aus eisblauem Licht, die immer größer und größer wurde, bis das blonde Mädchen sie gen Himmel schickte.
Plötzlich begann es zu schneien.
Dem Wintergeist klappte die Kinnlade nach unten. Völlig entgeistert blickte er auf die weißen Flocken, als hätte er noch nie zuvor in seinem Leben Schnee gesehen.
Woher kann sie so etwas?
Die kleine Anna schien weitaus weniger überrascht. Ein Jubelschrei entfuhr ihr, als sie die unzähligen Schneeflocken am Himmel erblickte. Verzückt schaute sie zu, wie diese auf ihrer Nasenspitze landeten und kicherte, als die tauenden Tropfen auf ihrer Haut kitzelten.
Die Ablenkung ihrer Schwester ausnutzend, formte Elsa einen Schneeball und warf diesen in Annas Richtung. Diese stürzte sich jedoch rechtzeitig mit einem lauten, vergnügten Kreischen in den nächstgelegenen Schneehügel, sodass der Schneeball sein Ziel verfehlte - und stattdessen mitten in Jack Frosts Gesicht landete.
Dieser hatte immer noch regungslos am Waldrand verharrt und versucht, das Gesehene zu verarbeiten, als ihn der eisige Ball aus seiner Starre erlöste.
Lachend schüttelte er den Kopf, um den Schnee loszuwerden.
Erst da bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Mit erstaunten Augen blickte Elsa genau in seine Richtung.
Reflexartig verbarg sich Jack hinter den dichten Nadeln der Tanne.
Hat sie mich etwa gesehen? Das kann gar nicht sein! Sie kann doch gar nicht an mich glauben... oder doch?
Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck hervor - doch seine Sorge war unbegründet - Elsa hatte sich bereits von ihm abgewandt und spielte wieder mit ihrer Schwester.
Diese wollte nicht aufhören zu betteln: "Komm Elsa, wir bauen noch einen Schneemann - oder nein, noch besser - wir bauen eine Schneefrau für Olaf!", sprudelte es nur so aus ihr heraus.
Doch dieses mal blieb Elsa unnachgiebig.
"Nein Anna, es ist schon spät - wir müssen zurück ins Schloss!", meinte sie entschieden. Als sie die schmollende Miene ihrer kleinen Schwester bemerkte, fügte sie jedoch schnell noch hinzu: "Wir bauen morgen wieder einen Schneemann, versprochen!"
Das schien Anna ein wenig zu besänftigen, zumindest drehte sie sich um und stapfte trällernd und hüpfend in Richtung der hoch aufragenden Schlossmauern.
"Geh schon vor, ich komme gleich nach!", rief Elsa ihr hinterher.
Als Anna bereits hinter den schneebedeckten Häusern verschwunden war, drehte Elsa sich entschlossen um, stemmte die Fäuste in die Seite und rief: "Du kannst rauskommen, ich habe dich gesehen!", in Richtung der Tanne, hinter der sich Jack versteckt hielt.

Die Wächter der JahreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt