Ich erinnerte mich an ihre zarten Küsse auf meinen Lippen. Ich wusste noch, wie ihre schweißsüße Haut schmeckte und wie ihre leise, raue Stimme klang. Ich glaubte jede Nacht, dass sie an meiner Seite war, weil ich meinte, ihre Präsenz zu spüren. Wenn die Nacht sich wie eine leichte Decke über die Welt legte, hoffte ich, in der sirrenden Stille ihr Rufen zu hören, wie sie sich nach mir sehnte, so wie ich mich beim Gedanken an sie innerlich vernichtete.
Ich hatte immer gewusst, dass es falsch war. In dem Augenblick, als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war dieses Wissen allerdings nebensächlich geworden.
Ich erinnerte mich an ihre zarten Küsse auf meinen Lippen.
Wie sie gelächelt und wie mich angesehen hatte. So, als sei nur ich wichtig und niemand sonst. So, als sei die Welt außerhalb des hässlichen Hotelzimmers zu Staub zerfallen.*
Ich war vier Jahre alt gewesen, als Mum und Dad das Haus am See gekauft hatten. Zwei Jahre später war Jamie da gewesen. Es war unser Zuhause. Unser Refugium. Wir hatten immer sicher sein können, dass wir immer darin willkommen sein würden und dass jegliche Probleme darin nichtig wurden. Auf unserem Grundstück war selbst die Luft vertraut. Sie schmeckte nach dem schlammigen Wasser des Sees, nach der feuchten Erde, die das Haus umgab, und nach von Moos durchwachsenem Holz vom brüchigen Zaun, der eine Grenze durch die hohen Fichten zog.
Manchmal schmeckte sie nach Dads Whiskey. Manchmal nach Mums Parfum. Manchmal nach dem Feigenkuchen, an dem die beiden sich alle paar Monate zusammen versucht hatten, und der nur aus Höflichkeit gegessen wurde.
Heute schmeckte sie nach meinen neuen Zigaretten.
Bei jedem Zug entschuldigte ich mich bei Jamie. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Ich konnte nicht anders. Ich weiß, ich bin schwach. Ich hab nachgegeben. Du kannst mich ja davon abhalten.
Doch das tat er nicht. Und ich warf einen Stummel nach dem anderen in das dunkle Wasser. Das Haus war heute durchsucht worden. Drinnen war das reinste Chaos, und irgendwas in meinem Kopf versuchte die ganze Zeit, mich zum Aufräumen zu bewegen, doch mit jeder Zigarette wurde dieser Drang kleiner.
Ich hatte mir abgewöhnt, genau auf die Wasseroberfläche zu starren. Einer der Polizisten hatte mir gezeigt, wo er gefunden worden war, und seitdem wurde mir schlecht, sobald mein Blick auch nur dort in die Nähe kam.
Ich hatte mir in der letzten Nacht, die wie die vorigen schlaflos gewesen war, Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen sollte. Mein Bauch hatte gesagt, gar nicht. Doch die gleiche Stimme, die auch jetzt noch aufräumen wollte, hatte mir zugeflüstert, wie alles werden würde, falls ich auf meinen Bauch hören wollte. Und das war fast noch deprimierender gewesen als die Tatsache, dass ich wieder angefangen hatte zu rauchen.
Ich spürte mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren, überlegte kurz, ob ich den Anruf ignorieren sollte, doch aus reiner Neugier nahm ich das Ding heraus und sah auf den Bildschirm.
Ich vergaß zu atmen.
Auf dem Display stand eine Nummer, die dem Handy zwar unbekannt, mir aber ins Gedächtnis gebrannt worden war. Ich hatte in den letzten fünf Jahren keine einzige Zahl vergessen. So, als wäre es mein eigener Name, hatte ich diese Nummer mit mir herumgeschleppt wie etwas, das mir gegeben und nicht wieder abgenommen worden war. Eine lange Zeit lang hatte ich geglaubt, dass sie es schon längst wäre, doch ich war sie nie wirklich losgeworden.
Ich wusste, dass ich rangehen musste.
Ich zitterte so sehr, dass das dämliche Teil mir fast aus den Fingern glitt. "Hallo?"
"Hallo, spreche ich mit Miss Lou Yang?"
"J-Ja." Ich schluckte die Spucke herunter, die mich etwas am Sprechen hinderte.
"Hallo Miss Yang. Hier ist Mrs. Tracey von der Adoptionsgesellschaft. Sie erinnern sich?"
Ich spürte mein Herz in meine Hose sacken. "J-ja."*
Sechs Jahre. Sechs verdammt lange Jahre.
*
Fünf Jahre. Ich hatte gehofft es zu vergessen, so sehr. Ich hatte gehofft, mein Körper würde es auch vergessen, würde so sein wie vorher und sonst nichts. Ich hatte gehofft, wenn ich all diese Nummern aus meinen Telefonen lösche und nicht mehr darüber rede, wäre es nie passiert, aber das war so einfach nicht.
Jamie wusste nicht einmal davon. Unsere Eltern wussten nicht davon. Vor sechs Jahren ist es passiert, und als ich meinen Fehler bemerkt hatte, war ich geflohen - bis ich vor fünf Jahren die Konsequenzen spürte, sie begrub und wieder zurückkehrte, als sei ich tatsächlich nur in Berlin gewesen, wie ich allen erzählt hatte.
Und nun wollte ich meinen Fehler nicht mehr Fehler nennen, ich konnte nicht.
Mein Fehler hieß Rachel und war fünf Jahre alt.
Ich war nach einem One-Night-Stand schwanger geworden, weil Rachels Vater und ich zu betrunken gewesen waren um auf so was zu achten. Ich war viel zu jung für ein Kind und fühlte mich so schuldig, ich fühlte mich nicht geeignet für dieses Kind und ich wollte es nicht. Es hätte mein Leben kaputtmachen können, meine Zukunft, meine Familie und mich selbst. Ich sagte es niemandem.
Nachdem ich die ersten Ultraschallbilder gesehen hatte, war Abtreibung nicht mehr infrage gekommen.
Ich hatte beschlossen, das Kind zur Welt zu bringen und es einem anderen Paar zu übergeben, das besser für es sorgen würde als ich es je tun könnte. Und so fuhr ich eines Nachts, nachdem ich mich dabei erwischt hatte, fast nach einer Flasche Wodka zu greifen, überstürzt mit ein bisschen Geld nach London und hinterließ meiner Familie eine Nachricht auf dem AB, in der ich ihnen mitteilte, dass ich mit ein paar Freunden nach Berlin reiste, weil einer von ihnen doch nicht konnte und ich eingesprungen war, weil ich schon immer mal dorthin gewollt hatte.
Ich blieb dort vier Monate, bis meine Eltern so stinksauer auf mein abruptes Gehen waren, dass sie mir auf dem AB drohten, mich abzuholen, und Rachel in einem Krankenhaus zur Welt gekommen war. Ich erlebte nicht mehr, von wem sie adoptiert wurde, dafür war ich zu schnell weg.
Ich hatte sie nicht ein einziges Mal gehalten, nicht einmal richtig gesehen.
Und jetzt wollte sie mich sehen. Ihre Eltern hatten mich ausfindig gemacht. Und sie wollten herkommen.
Und ich wusste nicht mehr, was ich wollte.
DU LIEST GERADE
Sirenenleid
ParanormalIn der englischen Kleinstand Halsdour spielt sich eine grausame Mordserie ab. Junge Männer werden entführt und Tage später ertränkt im See aufgefunden. Die örtliche Polizei steht vor einem Rätsel, doch eins haben alle Opfer gemeinsam: Sie zeigen kei...