Eins

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Die Straßen waren voll von Menschen, Schneeflocken fielen vom Himmel, die Autos kamen nur langsam voran. Es war kurz vor Weihnachten. Drei Tage noch, und Harry war am Verzweifeln. Er musste noch Geschenke kaufen, für seine Familie und seine ganzen Freunde. Doch er wusste nicht wirklich, was er ihnen schenken sollte. Den Mädchen immer Schmuck zu schenken, erschien ihm langweilig, und die Jungs nahmen ein Computerspiel auch nur noch mit einem gezwungenen Lächeln an. Seufzend fuhr er sich durch die feuchten Locken und hob den Blick in den Himmel, von dem dicke, flauschige Schneeflocken fielen. Lächelnd atmete er die frische, kalte Luft ein und ging weiter in Richtung Geschäfte. Schon bald kam er bei Douglas an. Er hatte zwar keine Ahnung von Kosmetik, doch irgendeine Angestellte würde ihm schon helfen. Harry trat ein und wurde sofort von der warmen Luft umhüllt, die sich wie ein bauschiger, gemütlicher Bademantel anfühlte. Leise seufzte der Junge, nahm sich dann aber zusammen und steuerte eine Frau an. Sie konnte nicht älter als zwanzig Jahre alt sein, hatte aber ein kleines, schwarzes Tatoo an der Schulter. Es war ein Engel.

Zehn Minuten später verließ er den warmen Laden, in dem er am liebsten noch ewig geblieben wäre. Etwas entspannter, da er jetzt schon Geschenke für die Mädchen hatte, überlegte er, zu welchem Geschäft er nun gehen sollte. Ihm stach ein Gitarrenbild ins Auge. Natürlich! Liam liebte die Musik und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Gitarre. Doch kurz nachdem der Gedanke Harry's Gehirn erreicht hatte, kamen Zweifel auf. Ein solches Instrument war teuer, viel zu teuer für Harry. Aber Liam war sein bester Freund, schon seit dem Kindergarten. Stirnrunzelnd und sich der finanziellen Lage bewusst, betrat er das Geschäft. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?", wurde er sogleich von dem Inhaber begrüßt. Lächelnd sah er den Mann an. „Hallo, ich bräuchte eine Gitarre für einen Freund." Der Mann nickte und zeigte auf eine Wand, an der glänzende braune Gitarren hingen. „Hier sind die aus der mittleren Klasse. An dieser Wand finden Sie die besten, und links sind die billigsten - was aber nichts über die Qualität aussagt." Freundlich sah er Harry an, welcher sich erstaunt umsah. Mit so vielen Instrumenten hatte er nicht gerechnet, und auch nicht damit, dass es so viele verschiedene gab. Irritiert starrte er auf eine pinke Gitarre mit einem Einhorn.

Als der Verkäufer seinen Blick bemerkte, entwich ihm ein Lachen. Schmunzelnd ging er auf seinen Kunden zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ein kleines Mädchen wollte unbedingt eine Gitarre mit einem Einhorn, deshalb haben wir ihr ihren Wunsch erfüllt. Aber sie ist nie wiedergekommen." Traurig strich er über den pinken Lack, seufzte. „Haben Sie überhaupt nichts mehr von ihr gehört?" Mit großen Augen sah Harry den Mann an, der bedrückt den Kopf schüttelte. „Nein. Niemand weiß, wo sie ist, nicht einmal ihre Eltern. Sie tun mir so leid. Ich habe selbst zwei Kinder, und es muss grauenvoll sein, nicht zu wissen, was mit dem Kind passiert ist." Der Lockenkopf sah ihn mitleidig an. „Das tut mir leid, Sir.", murmelte er. Ihm war ein wenig unwohl angesichts der Tatsache, dass dieses Mädchen nie wieder aufgetaucht war. Es konnte schließlich alles mit ihr passiert sein. „Wie alt war sie?" Eine Falte erschien auf der Stirn des Verkäufers. „Sie war vier. Ihre Eltern sagten, dass sie eine riesige Begabung für die Musik hat." Harry schluckte. Der Mann räusperte sich. „Nun denn, Sie haben sicherlich nicht viel Zeit, denke ich. Weihnachten ist stressig genug, und dieses Jahr ist es noch schlimmer." Grummelnd sah er in seine Unterlagen. „Wenn jedes Jahr so weitergeht, muss ich noch mehr herstellen, und noch mehr Zeit geht drauf." Er brabbelte weiter solche Beschwerden vor sich hin, aber Harry hörte ihm gar nicht mehr zu, sondern starrte wie gebannt auf eine dunkelbraune, mittelgroße Gitarre. Andächtig fuhr er mit einem Finger über den glänzenden Lack, betrachtete sie mit großen Augen. Sie erschien ihm perfekt für Liam, und deshalb tippte er den Verkäufer an, um sie zu kaufen.

Eine viertel Stunde später ging er guten Gewissens nach Hause. Er hatte für jeden seiner Bekannten und Familienmitglieder ein Geschenk gefunden. Stolz versteckte er alles in seinem Zimmer, sah lächelnd auf die Gitarre. Liam würde sich bestimmt freuen. Ja, das würde er. Harry war fest davon überzeugt.

Doch nicht alle hatten es so gut wie Harry. Menschen saßen auf der Straße, froren sich die Gliedmaßen ab und kämpften gegen den Hunger. Doch auch jemand, der niemanden mehr hat, der keinen Grund mehr fürs Leben sieht, ja auch der hat jemanden, der über ihn wacht. Man nennt sie Schutzengel. Sie treten nur in Erscheinung, wenn sie gebraucht werden, und dann kann auch nur der Beschützte sie sehen. Es wird gemunkelt, dass sie komplett in Weiß gehüllt seien und nicht sprechen würden, da ihr oberster Chef es verbieten würde. Doch keiner der Menschen, die diese Gerüchte verbreiteten, wusste Genaueres darüber. Aber eins war klar: Schutzengel gab es. Und genau so einer saß gerade in seinem Zimmer, als jemand an seine Tür klopfte. Seufzend stand er auf, öffnete sie und erstarrte. Vor ihm stand ein Erzengel. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, schluckend senkte er den Blick, verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Meister." Der Erzengel nickte, klappte seine schwarzen Flügel zusammen und schob sich an Louis vorbei in das bunt gehaltene Haus. Überall lagen Spielzeuge verstreut, einige davon waren neu, einige schon uralt. „Schön hast du es hier, Louis." Der Angesprochene nickte und schloss die Tür, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte Angst. Schreckliche Angst. Erzengel kamen nur dann, wenn irgendetwas Schlimmes passiert war. „Ich habe einen Auftrag für dich.", sagte der schwarze Engel, nahm ein kleines Spielzeugauto hoch und betrachtete es mit gespaltenem Gesichtsausdruck. Sofort entspannte sich Louis und atmete erleichtert auf. Gott sei Dank war er nicht wegen einer Straftat hier. „Du wirst einen gewissen Harry Styles beschützen. Vorher solltest du aber noch einiges wissen. Der Auftrag ist nicht so einfach, wie du denkst. Überall sind Engeljäger verstreut, pass also gut auf dich auf. Wenn du angegriffen wirst, dreh diesen Ring dreimal um die eigene Achse. Er wird dich wieder in den Himmel bringen." Er hielt Louis einen schlicht gehaltenen Goldring hin, auf dessen Oberseite sich eine kleine, dünne Platte mit Ziffern befand. Fast sah die Platte wie eine Uhr aus, aber kurz darauf konnte er keine der Ziffern mehr sehen, die vorher noch da gewesen waren. Kopfschüttelnd nahm er ihn entgegen und schenkte dem Erzengel ein echtes Lächeln. „Danke, Meister. Es ist mir eine große Ehre, einen Auftrag dieser Klasse zu bekommen." Der schwarze Engel lächelte leicht, klopfte Louis auf die Schulter und legte das Spielzeugauto in seine kleine, weiche Hand. Er wollte gerade gehen, als der Brünette ihn aufhielt. „Meister, warte!" Der Angesprochene blieb stehen und drehte sich um.

„Wieso hast du mich ausgewählt? Ich bin doch noch gar keine sechzehn Jahre alt." Verwirrt sah er zu ihm und kaute sich auf der Unterlippe herum. Wieso sollte er den Auftrag erledigen? Es gab so viele uralte Engel im Himmel, wieso dann er? „Du bist mutig, Louis. Deine Mutter war ein großer Erzengel und anscheinend liegt es in der Familie, bedeutende Aufträge zu erledigen. Schlaf jetzt, Kleiner. Morgen geht es los, dann musst du ausgeruht sein." Mit diesen Worten verließ er das Haus, bereitete vor der Tür die pechschwarzen Flügel aus und ließ sich fallen. Wie vom Donner gerührt stand Louis da, war wie erstarrt. Kleine Tränen hatten sich in seinen Augen gebildet, als der Erzengel von seiner Mutter gesprochen hatte, und sofort musste er an sie denken. Schluckend unterdrückte er den Schmerz der Erinnerungen, schloss die Tür und legte sich schlafen. Der nächste Tag würde vielversprechender werden als alle anderen Tage, dem war er sich sicher.

Guardian AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt