Sechs

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Schmunzelnd setzte Harry sich auf das Bett, welches aber nicht wirklich besetzt war; Louis' Figur war eher klein und schmächtig, und dass er sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt hatte, verstärkte diese Wahrnehmung nur noch. Sanft strich Harry über die Wange des Engels und beobachtete fasziniert, wie sich ein Lächeln auf dessen Lippen bildete. Er wollte durch seine Haare fahren, doch kurz davor stoppte er und zog seine Hand zögerlich wieder zurück. Er wusste ja nicht, ob Louis ihn wirklich mochte; und wenn, ob er es nicht komisch fand, dass Harry gleich so anfing. Leise seufzend lehnte er sich an die Wand und beobachtete den Jungen. Zu gerne würde er seine wunderschönen blauen Augen sehen, die jedes Mal so strahlten, so funkelten, als wären sie Saphire, die in ein wunderschönes Gesicht eingelassen waren und das Bild nur noch perfektionierten.

Lächelnd blickte er auf das kleine Wesen hinab, biss sich auf die Lippe. Er hatte so viele Fragen an ihn, doch er würde damit wohl warten müssen, bis er wach war. Theoretisch könnte er ihn auch aufwecken, aber der Gedanke schreckte ihn ab, denn schlafend sah der Junge mit den verstrubbelten Haaren einfach zu süß aus. Als Harry seine Gedanken schweifen ließ und darüber nachdachte, wie er ihn sofort zu sich geholt hatte, war er überrascht von sich selbst. In ihm keimte der Verdacht auf, sich in ihn verliebt zu haben; doch er war viel zu unerfahren in Sachen Beziehungen, da er noch nie einen Freund gehabt hatte. Die Vorstellung, sich an jemanden binden zu müssen, erschien ihm abstrakt. Viel lieber wollte er alleine sein, sein Leben alleine bestimmen und sich von nichts und niemandem außer sich selbst etwas sagen lassen. Seine Stirn legte sich in Falten, als er sich daran erinnerte, wie sein ehemaliger bester Freund Daniel versucht hatte, ihn zu küssen. Bei dem Gedanken verzog sich sein Gesicht wie automatisch. Es war ekelhaft. Dass sein bester Freund auf ihn stand, hätte Harry sich niemals gedacht, und die Tatsache, dass Daniel ihn zu mehr bringen wollte, rief ein Rumoren in seinem Magen auf.

Er versuchte, sich wieder auf Louis zu konzentrieren, der wie ein kleines Baby in seinem Bett lag, die Augen geschlossen, mit einem friedlichen Gesichtsausdruck. Wie konnte dieser Junge nur so unbeschwert aussehen? Hatte er niemanden, um den er sich kümmern musste? Keine Arbeit, die ihn manchmal bis an die Spitze trieb? Wenn er wüsste, wie recht er doch hatte. Dann fuhr er sich durch die Locken und sah an die Decke. Früher hingen dort viele von den Sternen, die in der Nacht leuchteten; aber nachdem er zehn war, hatte er sie abgehängt, da sie ihm nicht mehr gefielen. Doch einen kleinen Mond hatte er nie abgehängt. Er verband zu viele Erinnerungen, die Harry nie wieder vergessen wollte. Schöne Erinnerungen, Erinnerungen voller Liebe und Zuversicht, Trauer, aber auch Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Lächelnd dachte er daran zurück, wie er mit seinen Eltern in Kroatien war und das erste Mal einen kleinen Schluck Alkohol getrunken hatte.

Flashback

„Mommy, was ist das da?" Neugierig zeigte der kleine Junge auf das Weinglas, das sein Vater in den Händen hielt. Seine Mutter lächelte sanft. „Das schmeckt dir bestimmt nicht, Haz. Das ist etwas für Erwachsene." Traurig sah er zu ihr, sank ein wenig in dem viel zu großen Stuhl zusammen und spürte seine Unterlippe zittern. Seufzend blickte sein Vater zu ihm, schob das Glas zu seinem Sohn und lächelte ihn sanft an. „Einen kleinen Schluck, ja? Aber nur einen kleinen!" Sein strenger Tonfall ließ Harry sofort nicken, und mit großen Augen machte er sich groß, um an das Glas heran zu kommen, da er ja erst sechs war. Neugierig umschloss er das Glas mit seinen kleinen Händen, hob es vorsichtig herunter und setzte es an seinen Lippen an. Schmunzelnd beobachtete Anne das Szenario, während der Lockenkopf gespannt wartete, bis die weinrote Flüssigkeit an seinen Mund gelangt war; und nachdem er den kleinen Schluck herunter gespült hatte, verzog er angewidert das Gesicht und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Bääääääh!", beklagte er sich und schüttelte den Kopf, als würde damit der Geschmack des Weins vergehen. Sein Vater lachte und sah seinen Sohn aus funkelnden Augen an. „Mommy hat dir doch gesagt, dass es dir nicht schmeckt, Kleiner." Doch Harry verschränkte nur schmollend die Arme vor der Brust.

Flashback Ende

„Harry?", wurde er jedoch aus seiner Erinnerung gerissen; erschrocken sah er auf und begegnete den blauen Augen des Jungen vor ihm. „Mhh?", murmelte er verpeilt und fuhr sich durch die Haare. Schmunzelnd setzte Louis sich auf und grinste ihn an. „Wo warst du denn mit deinen Gedanken?" Grummelnd lehnte sich der Lockenkopf wieder an die Wand. „Nirgendwo." Eigentlich wollte er nach außen hin unnachgiebig wirken, doch als ein leises Kichern erklang, drehte er das Gesicht erstaunt zu Louis, welcher ihn vergnügt ansah. „Du warst also im Nirgendwo, aha." Frech grinsend funkelte er den Jüngeren an und zog eine Augenbraue hoch. Verwirrt nickte Harry. Wie hätte er auch anders reagieren sollen? Schließlich hatte er sich nur an ein Ereignis erinnert. Und an Louis gedacht hatte er mit Sicherheit nicht. „Ja. Ich hab an nichts Bestimmtes gedacht." Doch der Engel grinste nur wissend und nickte. „Gut, wie du meinst. So, was wollen wir jetzt machen?" Gelangweilt sah er zu Harry, welcher die Stirn in Falten legte und fest überlegte. „Hmm...wir könnten einen Film anschauen, Wii spielen, Musik hören..." Als Louis das Wort ‚Musik' vernahm, leuchteten seine Augen auf, und sofort unterbrach er sein Gegenüber. „Ich will Klavier spielen!" Schmunzelnd nickte Harry und deutete auf den pechschwarzen Flügel, welcher momentan noch ziemlich einsam dastand. Strahlend sprang Louis auf, ging zu dem Instrument und setzte sich, bevor er mit einem Funkeln in den Augen über die Tasten strich und die Finger dann darauf legte; ganz sanft, als hätte er Angst, das Klavier zu beschädigen. Dann schloss er die saphirblauen Augen, konzentrierte sich, ließ sich in eine Erinnerung mit seiner Mutter fallen und fing an zu spielen.


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