Sieben

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Eine Welt voller Emotionen. Ein reißender Fluss, der alles verschlang, was ihm in den Weg geworfen wurde. Ein Tornado, der alles weit hinauf wirbelte und es mit sich trug, bis er sich legte. Ein Sturm, der die Haare durcheinander wirbelte und durch die Klamotten fuhr, als wäre er ein Geist, der ab und an die Körper der Menschen besuchte. So fühlte sich Louis; schwerelos, als wäre er nicht mehr in seinem Körper, als wäre er eine allein gelassene Seele, die nichts anderes als Liebe und Geborgenheit verspürte. Mit geschlossen Augen wanderten seine Finger wie automatisch über die Tasten, entlockten ihr wunderschöne, sanfte Laute, die unter die Haut gingen. Wie erstarrt stand Harry da, war wie von den Socken gerissen von den Emotionen, die Louis durch das Klavier ausstrahlte. Eigentlich wollte der Lockenkopf alles über den Engel wissen, doch nachdem er dessen Hingabe für dieses Instrument bemerkt hatte, wollte er es nicht mehr; vielleiht noch ein kleines bisschen, aber das konnte warten.

Fasziniert beobachtete er, wie Louis langsam endete, wie sein Ringfinger die letzte Taste drückte und dann losließ, wie er langsam die Augen öffnete. Es schien so, als würde er erst jetzt realisieren, dass er in Harry's Zimmer saß und eigentlich eine heikle Aufgabe zu erledigen hatte. Denn er zuckte zusammen und drehte sich blitzschnell um, weswegen er nur einen verwunderten Blick erntete. Mit großen Augen starrte er den Jüngeren an, der sich nun auf sein Bett setzte. „Seit wann spielst du? Das war wunderschön." Sanft lächelnd sah er auf den Jungen und klopfte neben sich auf die Bettdecke. Zögerlich stand Louis auf, nachdem sich seine Wangen ein wenig gerötet hatten; mit Komplimenten konnte er nie gut umgehen. Langsam ließ er sich neben ihn fallen und kuschelte sich an die flauschige Decke, versteckte seine kalten Füße darunter und senkte den Blick auf seine ineinander verschlungenen Hände, die miteinander spielten, als wären sie unruhig oder nervös.

„I – Ich ... ", fing er an, unterbrach sich aber kurz darauf wieder. „Du musst es mir nicht erzählen. Wenn du nicht willst, verstehe ich das." Dankbar sah er Harry an, der ihn nur sanft anlächelte und sich ganz auf das Bett legte. „Hast du schon einmal gesehen, wie sternklar die Nacht im Winter ist?" Mit funkelnden Augen sah er den Engel an, welcher nur den Kopf schüttelte. Er fand es süß, wie Harry davon schwärmte und sich komplett in seine eigene Welt sinken ließ. Denn genau das hatte er auch bei seinem Klavierspiel getan; er hatte sich fallen gelassen. In eine Welt, in der es nur ihn und seine Erinnerungen gab, in denen niemand war, der ihm böses wollte. Lächelnd hörte er dem Lockenkopf zu, beobachtete seine Gesichtszüge und musste automatisch lächeln, wenn man seine Grübchen erkannte. Er sah einfach zu süß aus. „Louis?", unterbrach er sich dann aber, da er anscheinend gemerkt hatte, wie viel er redete.

„Ja?", antwortete er fragend und hob den Kopf ein wenig an, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich ... Ich hab dich wirklich gern, weißt du." Verlegen senkte er den Blick und wurde ein wenig rot. Doch auf seinen Lippen war ein Lächeln zu erkennen. „Ich mag dich auch, Harry.", antwortete Louis schmunzelnd und strich seinem Schützling eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihm ins Gesicht gefallen war; bei der Berührung fühlte er sich wieder genau so wie in dem Moment, in dem er ihn das erste Mal angefasst hatte. Seine Atmung verschnellerte sich ein wenig, er versank in dem wundervollen Grün, nahm nur die weiche Haut wahr, über die er ganz leicht, fast schon sanft, strich. Doch nicht nur ihm ging es so. Harry hatte den Atem angehalten, als Louis ihn berührt hatte, und jetzt stieß er ihn wieder aus; ein breites Lächeln überzog dessen Gesicht. Also mochte er ihn auch? In seinem Bauch kribbelte es, und plötzlich war ihm wärmer als jemals zuvor. Ob das an Louis lag? Er war verwirrt von seinen Gefühlen, von der unerwartet intensiven Wahrnehmung. Früher hatte seine Mutter das fast täglich getan, wieso hatte er es bei ihr nie so gefühlt?

Der Engel strich mit dem Daumen sanft über die Stirn des Lockenkopfes, die sich wie automatisch bei dessen Gedanken gerunzelt hatte. „Über was denkst du nach?", murmelte er leise, als hätte er Angst, er könnte die gemütliche Atmosphäre zerstören. Harry hingegen wurde wieder rot, senkte beschämt den Blick. „Ü – Über nichts.", nuschelte er und sah Louis mit seinen großen grünen Augen an. Louis lächelte nur.


Guardian AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt