5.2 - SLASH

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Slash

Gerade als er sich mit einem Mitglied aus dem Rat unterhält, wird er wieder zu Elderly gerufen. Zwar ist er verdutzt über die Rückbeorderung, geht aber ohne zu zögern zum Haus des Rates. Vermutlich will Elderly bloß erfahren, ob alles glatt gelaufen ist, als sie Loreen abgeholt haben, oder ob sie während des Ausfluges Feinden begegnet sind. Zum Glück haben sich die verfluchten Titanus nicht blicken lassen und die Operation ist problemlos über die Bühne gegangen – zumindest oberflächlich betrachtet.

Denn seit Pures Nachricht, dass sie Loreens Kraft gespürt hat, tobt in seinem Inneren ein erbitterter Kampf, der immer wieder auflodert und neu entfacht wird, wenn er sie ansieht, wenn er nur an sie denkt. Am Schlimmsten ist es gewesen, als er sie nach all den Jahren am Rande einer Kleinstadt wiedergesehen hat. Einerseits ist er froh gewesen, nun endlich zu wissen, dass es ihr gut geht und sie noch lebt. Aber andererseits hat es in ihm auch Wut und Zorn entfacht, weil sie für so lange Zeit, ohne eine Nachricht zu schicken, abgehauen war. Slash wäre nie freiwillig mitgegangen, als Pure beauftragt wurde, sie zu holen. Doch Elderly hat darauf bestanden, dass er gemeinsam mit Pure und Sky aufbricht, weil sie bereits eine Verbindung zu Loreen haben würden. Da sie nicht wissen, aus welchem Grund sie wieder aufgetaucht ist, will der Rat auf Nummer sicher gehen.

Als er sie schließlich wiedergesehen hatte, ist er hin und her gerissen gewesen. Loreen ist genauso, wie er sie in Erinnerung behalten hat, mit einer Traurigkeit, verursacht durch schwere Schicksalsschläge, die einem ein Leben lang anhaften. Als würde sich die eigene Aura für immer ein paar Nuancen dunkler färben. Aber trotzdem hat sie sich verändert. Sich eine Härte zugelegt und ein neues Feuer in sich geschürt, das durch ihre wachen, dunklen Augen strömt. Nicht nur ihr Wesen ist verändert, sondern auch Loreens äußere Erscheinung. Ihre gesamte Haarfarbe schimmert nicht mehr im satten violett, sondern ist einer beinahe vollkommen schwarzen Haarpracht gewichen. Die langen, glatten Haare reichen ihr nun fast bis zur Hüfte und nur vereinzelt blitzen violette Strähnen hervor - wie Erinnerungen aus einem alten Leben. Außerdem hat Slash mit einem Blick festgestellt, dass sie nicht nur viel selbstbewusster auf den Beinen steht, sondern auch, dass sie trainiert hat. Ihre Bewegungen sind um einiges sicherer, geschmeidiger – wie die einer Kämpferin. Um sich solch eine verbesserte Körperbeherrschung anzueignen, muss sie vieles erlernt und einiges an Arbeit investiert haben. Die Frage ist nur was und warum?

Den Abend hatten sie zu viert in einem kleinen Zimmer eines billigen Motels am Ende der Stadt verbracht. Die Unterhaltung führten die ganze Zeit über ausschließlich Sky, Pure und Loreen, da sich Slash mit einem Sessel abseits von den anderen am Fenster positioniert hatte. Zum einem, um die Gegend vor nahender Gefahr zu überwachen und zum anderen, um ihr nicht zu nahe zu kommen. Durch die Spiegelung im Glas des Fensters hatte er bemerkt, dass sie mit gerunzelter Stirn immer wieder einen flüchtigen Blick in seine Richtung warf. Doch er hatte jedes Gespräch und jeden Augenkontakt vermieden. Er hatte sie nicht direkt ansehen können oder wollen, obwohl sein Körper eigene Regeln zu dem Thema gehabt hatte. Seine Finger zuckten ständig in ihre Richtung, als wären sie an kleine Marionettenschnüre gebunden gewesen. Das ging solange, bis er den restlichen Abend nur noch mit fest geballten Fäusten auf den Oberschenkeln dort gesessen und seine Nervenbahnen und Muskeln innerlich verflucht hatte.

Einige Minuten hatte er sich sogar eine Auszeit genommen und war nach draußen, rund um das Haus gegangen, wo ihn keiner sehen konnte. Dort hatte er mit der Faust gegen einen alten Autoreifen geboxt, der herum gelegen hatte, und seinen Frust hinaus geprügelt. Auf die Hausmauer hatte er ja schlecht einschlagen können, da er seine Finger noch brauchte. Kurz hatte er sich danach besser gefühlt. Aber nur solange, bis er wieder hinein gegangen war.

Er kommt sich wie ein Alkoholiker vor, der nicht versteht, wie er zu einem geworden ist und nun eine Flasche besten Weines vor der Nase hat. Würde der Alkoholiker die Flasche verfluchen und in den Tartaros schicken oder sich ihr ergeben und dabei glücklich vergehen? Denn eines ist für Slash sicher: Loreen wäre für ihn genauso Untergang wie Erlösung. Er weiß, dass sein Verhalten und emotionaler Zustand einfach nur lächerlich sind. Wie lange habe ich sie gekannt – ein paar Tage? Vor vier Jahren? Und trotzdem hat sie ihn in Gedanken nie losgelassen - er kann seine Gefühle nicht ändern. Manchmal zählt wohl nicht die Dauer einer Bekanntschaft, um deren Wert zu messen. Deshalb hat er sich vorgenommen, Loreen im Lager aus dem Weg zu gehen. So gut das in einem kleinen Dorf geht, in dem man gemeinsame Mahlzeiten und geteilte Waschräume pflegt. Zumindest kann er sich geistig von ihr abschotten und versuchen, ihr so wenig wie möglich über den Weg zu laufen. Das klingt nach einem Plan.

Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt