6.1 - Loreen

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Loreen

Aufgebracht läuft Loreen nach draußen und kann es immer noch nicht fassen, wie arrogant und abweisend sich Slash ihr gegenüber verhalten hat und das auch noch vor Elderly.
Wie kann er nur, dieser Mistkerl! Dabei hat sie ihm gar nichts getan – okay, bis auf die Tatsache, dass sie ihn und die anderen sitzen gelassen hat. Aber damals ist sie noch ein Kind gewesen und er kann doch deswegen nicht noch immer sauer auf sie sein. Sogar die Verjährungsfrist im Zivilrecht läuft nach drei Jahren ab und das mit Slash ist schon vier Jahre her. Oder hat sie gestern Abend etwas getan, das ihn verärgert hat, als die drei gekommen waren, um sie aufzulesen? Aber nein, sie beide haben nicht ein Wort miteinander gewechselt, also wie sollte sie dann etwas Falsches getan oder gesagt haben. Oder kann es sein, dass er auf eine Entschuldigung für damals wartet? Da hat er sich aber mächtig geschnitten, denn die wird sie ihm sicherlich nicht geben. Loreen hat all die Jahre auf eine Nachricht von ihm gewartet und nie eine Reaktion auf ihren Brief bekommen. Seine Chance auf eine Entschuldigung ist nach der Aktion eben endgültig gestorben und wegen seines offenen Ekels davor, mit ihr Zeit zu verbringen. Er benimmt sich fast so, als hätte sie eine ansteckende Krankheit oder einen fiesen Ausschlag.

Während sie immer noch unter dem Vorbau am Eingang des Ratshauses vor sich hin grummelt, geht die Tür auf und Slash tritt heraus. Ohne anzuhalten eilt er an ihr vorbei und ruft über seine Schulter: »Komm mit. Ich zeige dir deine Hütte.«
Schon einmal etwas von einem freundlichen Tonfall oder Umgangsformen gehört?, denkt sie erbost. Wohl eher nicht.
Missmutig läuft sie hinter ihm her und würde lieber in weiter Entfernung folgen, aber auf dem Weg durch das Dorfzentrum machen sie die vielen neugierigen Blicke der anderen Bewohner unruhig und sie verkürzt den Abstand zu ihm.

Kurz bleiben sie am Rand der Siedlung stehen, um das Gepäck aufzulesen, das sie vorhin zurückgelassen haben. Slash schnappt seinen ledernen Sack, legt ihn sich seitlich um die Schulter und nimmt eine ihrer zwei großen Reisetaschen. Bevor Loreen die verbliebene Tasche nach oben hievt, läuft er schon wieder los, ohne sich nach ihr umzuschauen. Ächzend schiebt sie sich die Träger um die Schulter und geht ihm nach, während die schwere Tasche rhythmisch von hinten auf ihre Hüfte schlägt. Ihr Weg führt sie am westlichen Rand des Lagers entlang: Vorbei an einer Reihe mehrerer Hütten aus Stein und Holz, die allesamt säuberlich gebaut und robust wirken. Einige Bewohner haben bunte Blumenarrangements angepflanzt, an den Fenstern in hängenden Töpfen oder neben den Türen in der Erde. Die Blüten erstrahlen in der Sonne in leuchtendem Purpur, Azurblau oder funkelndem Rot. Es wirkt heimelig und naturverbunden, bunt, aber mit einer gewissen Ordnung. Bewundernd lässt Loreen ihren Blick umherschweifen, läuft abgelenkt hinter Slash her und rennt plötzlich mit voller Wucht gegen seinen breiten Rücken. Dadurch kommt sie für einen Moment ins Schwanken. Die schwere Tasche über ihrer Schulter möchte Loreen nach unten ziehen. Doch bevor sie zu Boden fällt und peinlich auf ihrem Hintern landet, fängt sie sich noch im letzten Moment. Dabei streckt sie unabsichtlich den Arm aus und berührt Slash am nackten Oberarm. Oh Oh, gar nicht gut. Das kann sie an seiner erstarrten Miene erkennen. Ruckartig zuckt er zur Seite und knurrt dabei »Nicht anfassen.«
Alles, was ihr übrig bleibt, ist mit eingezogenem Kopf ein »'Tschuldigung« zu nuscheln, obwohl Wut in ihrem Magen auflodert. Immerhin war es keine Absicht, trotzdem lässt es Slash so aussehen. Dann läuft er auch schon weiter, wobei sie sich einer Gruppe mehrer kleiner Hütten aus Stein und Holz nähern. An einer von ihnen bleibt er stehen und wartet, bis Loreen zu ihm aufgeschlossen hat. Bevor sich die unangenehme Stille noch länger ausbreiten kann, bricht Slash das Schweigen. »Wir sind da. Die Hütte gehört dir. Du kannst darin machen, was du willst und musst sie mit niemandem teilen.«

Er stößt eine Holztür auf, tritt hindurch und lässt ihre Tasche im Inneren auf den Boden gleiten. Mit einer weitschweifenden Handbewegung deutet er auf den Raum. »Bitteschön. Ich hol' dich zum Abendessen ab.«
Slash möchte bereits aus der Hütte verschwinden, aber Loreen stellt sich in den Türrahmen und versperrt ihm damit seinen Weg in die Freiheit. Dabei kommt er ihr näher als in den letzten vierundzwanzig Stunden – wenn man den Zusammenstoß nicht mitzählt. Er trägt noch immer das Lederoutfit vom Vortag. Eine dunkelbraune Hose und eine ärmellose Lederweste, die vorne mit dünnen Bändern unvollständig zugeschnürt ist und genügend Ausblick auf seine starken, cappuccinofarbenen Arme und Brustmuskeln gewährt. Sein Geruch steigt ihr in die Nase. Er ist genauso herb und würzig, wie der Mann, der ihn sein eigen nennt und bei dem man in die Knie gehen könnte. Aber diese oberflächlichen Träumereien haben die beiden bereits abgehakt und hinter sich gelassen. Dazu wird es nicht mehr kommen.
»Warte mal! Wann holst du mich ab?«
Der fragende Blick in seinem Gesicht veranlasst Loreen weiterzusprechen: »Du weißt schon, eine genaue Zeit, nach der ich mich richten kann. Fünf, sechs, halb sieben?«
Kein Lächeln, sondern nur eine schlecht gelaunte Antwort kommt aus seinem Mund. »Wir haben keine genauen Uhrzeiten. Wir richten uns nach dem Stand der Sonne. Abend ist, wenn die Sonne beginnt unterzugehen.«
»Aber ...«, beginnt sie, doch Slash verengt die Augen und unterbricht sie, bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen kann. »Hör zu. Ich kümmere mich nur um dich, weil der Rat das will, das war nicht meine Entscheidung. Wir sind keine Freunde und werden auch keine. Verstanden?! Bis später.«

»Okay«, antwortet sie mechanisch, lässt ihn wie in Trance an sich vorbei gehen und hinter den nächsten Büschen verschwinden. Was soll sie auch sonst sagen, wenn er nicht bereit ist, mit ihr befreundet zu sein oder ihr im Geringsten zu helfen? Das merkt sie nicht nur an seinen brutalen Worten, sondern sieht es auch in seinen Augen und an seiner Körperspannung. Wenn hier der Tagesablauf wirklich nach den Sonnenstunden gelebt wird, dann wird Loreen jemanden finden, der ihr das beibringen kann oder sie lernt es einfach selbst. Sicherlich nicht mit Slash und wohl auch nicht mit Pure, aber vielleicht mit der Hilfe von Sky.

Mit neuem Mut und Entschlossenheit tritt Loreen in ihr neues Domizil, ihr Zuhause, ihr Reich ... ihre kleine Kammer, die nur ein Bett, einen alten Holztisch mit einem schiefen Stuhl und einem verdammt mickrigen Kleiderschrank beherbergt. Wo soll sie ihre persönlichen Sachen unterbringen? In dem kleinen Ding da, das in der Breite nicht einmal einen Meter misst? Grauen legt sich über ihre Züge, als ihr wirklich bewusst wird, dass sie nun im Lager der Divinus ist – freiwillig – und diese wie zivilisiertere Bewohner des Mittelalters leben, die noch nichts von Elektrizität, geschweige denn von Internet oder Handy gehört haben. Wie überlebt man so überhaupt? Bald wird sie es herausfinden.

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Essenz der Götter I - XXL Leseprobe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt