Gerettet
1912, RMS Carpathia
Man stellte keine Fragen. Als die Stewardess mitten in der Nacht an die Kabinentüren klopfte, beschwerte sich keiner der Passagiere. Man wusste von selbst, dass etwas passiert war. Leise fragte die Stewardess, ob die Passagiere mit ihr kommen würden, es gäbe ein Problem, das dringend gelöst werden müsste. Angespannt folgten ihr die Frauen und Männer in einen der Speisesäle. Dort warteten bereits einige andere Passagiere der RMS Carpathia. Vor sich hin murmelnd überlegte man, was wohl passiert sei.
Eine Stewardess kletterte schließlich auf einen Tisch, damit man sie besser sehen konnte. Sie erklärte mit wenigen Worten, dass nicht weit entfernt ein Schiff in Seenot geraten sei und Hilfe brauche. Ein Eisberg habe einen Unfall verursacht und in der Häufigkeit, in der der Funker der Carpathia die Signale CQD und SOS erreicht hatte, war es dringend. Man wollte den Kurs ändern, um den Schiff zu Hilfe zu eilen.
In der Annahme, dass man die Passagiere des Schiffes evakuieren würde, bat man die Frauen und Männer um ihre Hilfe. Decken, Kissen und warme Sachen sollten für die Evakuierten bereitgestellt werden. Angespannt ging man ans Werk. Man schaltete alle Elektronikgeräte auf niedrigste Stufe, wenn man nicht sogar ganz auf sie verzichtete. Der Kapitän wollte alle Energie dafür verwenden, dem Schiff so schnell wie möglich näher zu kommen. In der Küche kochte man Tee und Kaffee, im Speisesaal rückte man Tische und Stühle, stellte Liegen auf und bereitete alles zur Behandlung von Verletzungen vor.
Decken, Kissen, Pullover, Jacken und Strümpfe wurden großzügig herbeigebracht. Auf dem Deck hielten einige Passagiere bereits nach Zeichen des Schiffes Ausschau. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass es sich um die Titanic handelte. Noch angespannter als zuvor wartete man darauf, endlich Gewissheit zu haben. An niemandem waren die Schlagzeilen der letzten Tage vorbeigegangen, alle wussten, dass die Titanic als unsinkbar galt. Doch war das wirklich so?
Es war kalt auf dem Außendeck und den Passagieren wurde bewusst, dass kein Mensch ein Schiff bauen konnte, das gegen alle Eventualitäten gewappnet war. Zwei Frauen trugen einen Stapel Decken im Treppenhaus nach oben. Als sie zum Speisesaal abbiegen wollten, bemerkten sie eine Gruppe junger Männer und Frauen, die zusammenstanden, rauchten und sich über die Unruhe beschwerten, dass man unter solchen Umständen ja keine Ruhe finden würde. „Es ist doch wohl die Höhe!
Da will man sich ausruhen und schlafen und plötzlich wird man mitten in der Nacht geweckt, um irgendwelchen in Seenot geratenen Menschen zu helfen", beschwerte sich ein Mann. „Als ob das unser Problem wäre", ergänzte eine Frau abschätzig. Die beiden Frauen hielten an, die eine legte ihre Decken kurz ab, wischte die Hände am Kleid und ging zu der Gruppe. „Wir könnten jetzt genauso in dieser Situation sein", sagte sie zu ihnen. Die Frauen und Männer verstummten, alle musterten die Frau abfällig.
„Was schauen Sie mich so an? Denken Sie, bloß weil sie mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind, sind Sie etwas Besseres?", meinte sie und ließ sich von den Blicken nicht beeindrucken. „Sie würden dann auch auf Hilfe hoffen. Nein, sie würden sie sogar erwarten, so arrogant wie Sie sind. Stehen hier und Rauchen sich das Gehirn weg." Sie deutete auf einen Rock einer der Frauen.
„Ausziehen!", befahl sie streng. „Sie tragen genug Unterkleider, da kommt es doch wohl auf das eine nicht an." Die Frau nahm einem der Männer die Zigarre aus der Hand und trat sie aus. „Was fällt Ihnen ein?", herrschte dieser sie an. „Sie helfen jetzt mit. Sie blockieren den Weg und wir können jede helfende Hand gebrauchen. Und sollten Sie sich weigern, werfe ich Sie eigenhändig über Bord", schmetterte die Frau. Sie ging zurück, nahm den Stapel Decken und drückte sie einem der Männer in die Hand. „In den Speisesaal damit!"
Schnell machten sich die Personen an die Arbeit. Nur kurze Zeit später kamen ein paar Männer vom Außendeck herein. „Wir haben Sie gefunden!", rief er atemlos. Draußen dämmerte es, doch der Ozean war immer noch dunkel und schwarz. Das Schiff wurde langsamer und eine Leiter wurde heruntergelassen. Die ersten Menschen kletterten an Bord, viele Hände halfen ihnen, über die Bordwand zu klettern. Standen Sie einmal auf den Beinen, warf man ihnen sofort eine Decke über und begleitete sie in den Saal.
Zwei kleine Kinder suchten nach ihrer Mutter und weinten herzzerreißend. Erst als auch sie an Bord war, beruhigten sich die Kinder wieder. Man arbeitet Hand in Hand und keiner der geretteten Menschen aus den Rettungsbooten musste noch länger frieren. Im Speisesaal herrschte Aufregung. Unter den Passagieren waren ein paar, die Arzt waren und sich um Erfrierungen und Quetschungen kümmern konnten. Wer unverletzt und nur unterkühlt war, bekam ein warmes Getränk. Doch die bekümmerte Stimmung schlug auch schnell auf die Passagiere der Carpathia über.
Keiner der Geretteten sprach ein Wort. Ein Mann brachte ein paar gestotterte Antworten zusammen, als man ihn nach dem Verbleib des Schiffes fragte. Gesunken war die erschütternde Antwort. Man beeilte sich und suchte den inzwischen heller werdenden Ozean nach weiteren Rettungsbooten ab. An allen Seiten des Schiffes hielten Menschen Ausschau, ob man zwischen den Eisbergen nicht doch noch Leben entdeckte. Unter all der Aufregung merkte man nicht, wie ein Junge sich an den nassen Mänteln der Geretteten zu schaffen machte. Er durchwühlte die Taschen und gab erst Ruhe, als er ein kleines Büchlein gefunden hatte.
Schnell durchblätterte er es, steckte es in die Tasche und verschwand im Trubel der Menschen. Fast keiner hatte etwas mitbekommen. Nur eine Frau saß gedankenverloren auf ihrem Stuhl, eine Tasse mit dampfendem Tee in der Hand. Sie hatte den Jungen beobachtet, wie er die Mäntel durchsucht hatte. Doch sie dachte sich nichts weiter dabei.
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Iter Temporis- Die letzte Nacht auf der Titanic
Historical FictionEigentlich sind Tagebücher streng geheim. Gilt das auch noch, wenn man sie zufällig in einer öffentlich zugänglichen Bibliothek findet? Wohl eher nicht, denken sich Dario und Tim und wollen schon zu lesen beginnen. Doch da wird es in der stickigen B...