Alle In die Rettungsbote!
1912, verschiedene Orte auf der Titanic
Ich muss sagen, die Leute aus vergangenen Zeiten sind doch nicht so übel, wie ich gedacht habe. Ich habe sie mir nämlich als humorlose, strenge Leute vorgestellt, die keine Freude am Leben haben. Vielleicht sind sie das ja auch, aber Ida und Isidor auf keinen Fall. Wir spielen Karten und unterhalten uns seit gut einer Stunde über die Zeiten, in denen wir eigentlich leben. Irgendwie fällt mir das Sprechen schwer.
Ich werde doch wohl nicht das Wasser mit Isidors teurem Champagner verwechselt haben! „Wie spät ist es jetzt?", möchte Dario wissen. Isidor holt eine kleine, goldene Taschenuhr hervor. „23:40Uhr", gibt er Auskunft. „Auf die Sekunde genau." Dario hält uns das Tagebuch unter die Nase. In der Chronik geht es folgendermaßen weiter:
Gerade haben Frederik Fleet und Reginald Lee etwas Unheimliches am Horizont entdeckt. Als sie es als Eisberg erkennen, ist es für ein Wendemanöver zu spät. Ein Versuch wird gestartet, der jedoch fehlschlägt.
Ein paar Sekunden später hören wir tatsächlich ein Knirschen, ein paar Gläser in den Vitrinen wackeln und sonst? Es sieht eher danach aus, als wäre nur der Wellengang plötzlich etwas stärker geworden. Das soll schon alles gewesen sein? "Das bisschen war der Eisberg?", fragt Isidor erstaunt. "Vermutlich", antworte ich. „Das haben die meisten doch gar nicht mitgekriegt", meint Isidor. "Aber was passiert denn nun?", Mrs. Straus ist plötzlich ganz blass um die Nase. Dario liest die passende Antwort vor:
Der Kapitän Edward John Smith und der Ingenieur der Olympic-Klasse, Thomas Andrews, begeben sich auf eine Besichtigungstour. Um 23:51 weckt Smith den reichsten Mann an Bord, John Jacob Astor, bevor er um Mitternacht den Befehl zur Evakuierung gibt.
"Was, dieser Astor wird vom Kapitän persönlich geweckt?", fragt Isidor. "Das hat dieser hochnäsige, eitle und eingebildete Mann aber nicht verdient." "Isidor, du sollst dich nicht immer über so etwas aufregen. Du weißt, dass er Milliardär ist!", sagt Ida energisch. „Er kann sonst noch so viele Milliarden haben", erwidert Isidor empört. „Als Mensch ist er einfach nur unausstehlich. Ich frage mich, warum ausgerechnet er als erster davon erfährt."
Es vergeht eine knappe halbe Stunde, als draußen etwas klingelt. Kurz darauf klopft es auch an die Tür. Ida öffnet wieder und erneut steht der Steward von vorhin vor der Tür. Er beachtet Dario und mich kaum. "Die Passagiere der ersten Klasse werden gebeten, zu den Rettungsbooten zu gehen", sagt er tonlos und eilt schon weiter. Ida seufzt und wirft sich eine Jacke über. "Na dann", sagt sie, "auf in den letzten Kampf!"
"Wir werden aber dafür sorgen, dass ihr beide einen Platz in den Rettungsbooten bekommt.", bestimmt Isidor. Ich habe immer noch Gewissensbisse, dass wir vorhin so ungehalten waren. Ob die beiden sich inzwischen mit der Antwort abgefunden haben? War es für sie möglicherweise schon von Vornherein klar, wie sie handeln würde, sollte diese Situation wirklich eintreten? Draußen auf dem Gang sehen wir andere, verschlafene Passagiere der ersten Klasse. Sie scheinen bis eben noch in ihren Betten gelegen zu haben.
Die wenigstens beachten uns, obwohl mir klar ist, dass wir mit T-Shirts, kurzen Hosen und Turnschuhen auffallen, wie Schnee in der Sahara. Wir gehen wieder zum großen Treppenhaus. Oben warten Besatzungsmitglieder mit Schwimmwesten auf uns. "Bitte legen Sie diese an und warten Sie, bis die Rettungsboote klar sind", sagt ein Mann zu uns. Wir legen die Rettungswesten um und gehen nach vorne, zu den Booten.
Die vier, die auf dieser Ecke des Schiffs sind, sehen erschreckend wenig aus und machen auch nicht gerade einen stabilen Eindruck. Andere Besatzungsmitglieder wuseln herum und nehmen die Planen von den Booten herunter und machen die Davits klar. Es ist auf einmal wieder schrecklich kalt. Bis eben war es noch so schön gemütlich gewesen, und jetzt stehen wir hier bei Temperaturen, die knapp den Gefrierpunkt überragen. Die Passagiere tuscheln miteinander. "Was das wohl soll?"; "Warum wecken die uns ausgerechnet mitten in der Nacht?"; "Ich habe gerade so schön geträumt"; "Eine Rettungsübung in der Nacht?" und "Die Rettungsboote sehen nicht gerade stabil aus."
"Tim, was ist denn eigentlich mit den Passagieren der 2. und 3. Klasse?", fragt mich Ida. "Die zweite Klasse wurde ebenfalls geweckt", antworte ich. „Glaube ich jedenfalls." Zwischen den schön gekleideten Passagieren stehen auch Gruppen von nicht so gut gekleideten Menschen der Mittelschicht. "Die dritte Klasse wird man aber nicht berücksichtigen", sagt Dario. "Aber warum denn das?", fragt Isidor. "Die Passagiere der dritten Klasse gelten besten Falls als Gepäckstücke", gibt Dario ihm die Antwort und deutet auf eine Stelle im Tagebuch.
Woher diese Anja Turja das alles wusste? War sie an Bord? Wenn ja, wo ist sie jetzt? Wie hat sie das Szenario überlebt? Ida und Isidor schütteln die Köpfe. Plötzlich erhebt ein Mann das Wort. "Sehr geehrte Passagiere. Wegen eines kleinen Problems werden Sie gebeten, in die Rettungsboote zu gehen."
"Wir sollen in die Rettungsboote?", fragt eine Frau. "Dieses schöne, prunkvolle Schiff gehen einen Haufen Holz eintauschen, der auf den kalten Atlantik heruntergelassen wird? Ich bin doch nicht lebensmüde!" "Ja", sagt der Mann. "Wie Sie jedoch wissen, Ladies und Gentlemen, haben Frauen und Kinder Vortritt. Das erste Rettungsboot ist jetzt fertig." Einige gehen sofort nach vorne und bekommen einen Platz. "Ich verlasse die Titanic nicht ohne meinen Mann!", sagt eine Frau energisch. "Lieber gehe ich wieder in mein Zimmer zurück!" Darauf erwidert das Besatzungsmitglied nichts.
Als ich auf meine Armbanduhr schaue, ist es 00:45Uhr. Ich glaube, jetzt müsste das erste Rettungsboot zu Wasser gelassen werden. Und genau jetzt wird das erste hinunter geleiert. "Es sieht aber noch ziemlich leer aus", bemerkt Isidor verwundert. "Von den insgesamt 1178 freien Rettungsplätzen wurden ja auch nur knapp über 700 genutzt", erklärt Dario. Klar, woher er das weiß. Trotzdem könnten wir uns angewöhnen, mit solchen Fakten etwas sensibler umzugehen. Im Moment sind es nämlich nicht nur Fakten. Plötzlich steht der Mann wieder neben uns. "Mrs. Straus? Sie könnten einen Platz in einem Rettungsboot haben", sagt der Mann.
"Nein, danke", weht Ida ab. "Aber, Mrs. Straus!", sagt der Mann erschrocken. "Nein habe ich gesagt", erwidert Ida bestimmt. "Ich möchte nicht in ein Rettungsboot." Der Mann geht nun zu einer Familie. Kurz darauf gehen sie vor zu dem Rettungsboot. Die Frau und das Kleinkind dürfen sofort Platz nehmen, dem Vater wird der Zutritt aber verwehrt. "Tut mir leid, Sir. Nur Frauen und Kinder", sagt das Besatzungsmitglied ruhig.
Mit einem Nicken tritt der Mann zurück. Er winkt seiner Frau und seinem Kind noch einmal zu, bevor ihn die Menschenmasse verschluckt. Das Kind kuschelt sich in den Schal von Ida. Dann wird auch dieses Rettungsboot, halb leer, zu Wasser gelassen. Nun sehen wir auch auf der anderen Seite, dass bereits Rettungsboote fehlen. Trotzdem scheint die Menschenmenge an Deck nicht weniger zu werden.
Einige Passagiere haben ihr Glas Wein aus dem Salon mitgenommen. Unfassbar! Isidor und Ida schauen händchenhaltend dem Treiben zu. Sie wissen ja, wie ihr Schicksal ist und kommen wird. Oder wäre es vielleicht doch anders gekommen, wenn ich mich vorhin nicht verplappert hätte? Warum muss Zeitreisen eigentlich so verflixt kompliziert sein? Noch scheint die Titanic ja stabil und ich selbst würde jetzt noch nicht daran denken, dass dieses Schmuckstück sinken wird.
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Iter Temporis- Die letzte Nacht auf der Titanic
Fiksi SejarahEigentlich sind Tagebücher streng geheim. Gilt das auch noch, wenn man sie zufällig in einer öffentlich zugänglichen Bibliothek findet? Wohl eher nicht, denken sich Dario und Tim und wollen schon zu lesen beginnen. Doch da wird es in der stickigen B...