Freiheit
Mai 1912, Central Park in New York City
"Ja, eigentlich nein", antwortete der Offizier langsam. "Was denn nun?", fragte der Anwalt zurück, der langsam ungeduldig würde. "Ich muss alles wissen, was Sie über den Untergang wissen! Sonst kann ich Ihnen nicht weiterhelfen..." "Vorschriftsmäßig gab es genug", gab der Offizier zu. "Die haben allerdings bei weitem nicht für alle gereicht..." "Ich habe gehört, dass einige Boote zu Wasser gelassen wurden, als sie gerade einmal halbvoll waren. Stimmt das?", wollte der Anwalt wissen. Der Mann nickte.
"Viele Passagiere wollten nicht in die Boote, da sei dachten, es wäre nur eine Übung. Und dann sollten wir nur Frauen und Kinder retten, weswegen ich vielen Männern den Zutritt verwehrt habe. Dann weigerten sich aber auch deren Frauen und Kinder, ihn zu verlassen." "Sie können niemanden zwingen, in ein Rettungsboot zu steigen", wurde ihm erwidert. "In dem Moment hätten wir es aber tun müssen. Die Passagiere wussten nicht, was vor sich geht, wir dagegen schon. Wir hätten sie vor allem nicht zurückhalten dürfen, aber irgendwie hat jeder etwas Anderes gemacht, keiner wusste wirklich, wie er mit der Situation umgehen sollte", erklärte der Offizier.
"Wo war der Kapitän? Er hat die Kontrolle über das Schiff und ist deswegen auch dazu verpflichtet, in einer solchen Situation alles zu überblicken und zu koordinieren. Allerdings klingt es für mich nicht danach, als wäre der Kapitän diesen Pflichten nachgegangen", überlegte der Anwalt und machte sich in seinem kleinen Block ein paar Notizen. "Edward Smith ist ein hochangesehener Kapitän, der nach dieser Fahrt in den Ruhestand gehen wollte", meinte der Offizier.
"Das entbindet ihn nicht von seinen Pflichten. Als die Titanic den Eisberg rammte, war er noch im Dienst. Er mag noch so hochangesehen sein, aber bei seiner Berufserfahrung muss er doch erst recht in der Lage gewesen sein, diese Situation zu handhaben", sagte der Anwalt verständnislos. "Das will ich nicht verstehen, wie so etwas passieren kann."
"Es ist aber nun mal passiert", erwiderte der Offizier ungeduldig und mit lauter Stimme. "Man kann sich jetzt über etwas aufregen oder nicht, was schon längst passiert und nicht mehr rückgängig zu machen ist." „Rückgängig kann man es zwar nicht machen, aber Folgen wird es haben", sagte der Anwalt und zündete sich eine weitere Zigarre an. „Ich hoffe, dass man daraus eine Lehre zieht."
„Ich habe meine auf jeden Fall daraus gezogen", seufzte der Offizier. „Wie es auch kommen mag, ich werde nie wieder einen Fuß auf ein Schiff setzen. Egal, ob ich verurteilt werde oder nicht, ich werde mein Amt niederlegen, wenn man mir das nicht ihm Rahmen meiner Verurteilung schon abnimmt." „Sie waren gerne auf dem Meer unterwegs?", fragte der Anwalt. „Und wie", antwortete der Mann und seufzte noch einmal. „Das Meer bedeutet für mich unendliche Freiheit. Sie können Sich nicht vorstellen, was jetzt in mir vorgeht. Ich bin schuld daran, dass andere Menschen die Sehnsucht nach Freiheit mit dem Leben bezahlt haben." „Wollen Sie dem Richter genau dasselbe erzählen? Auf die mentale Art auf Freispruch hoffen?", wollte der Anwalt wissen.
Er kannte die Masche schon. Mörder, die plötzlich einsahen, welch schlimme Tat sie begangen haben und ihre Fehler einsehen. Ihn ließ es kalt, wie es auch die Richter kalt lassen würde. Was für ihn zählte, waren die Fakten und Beweise für das Unglück. So hart es klang, aber anders funktionierte das Geschäft nicht. „Was passiert ist, ist passiert und was nun daraus wird, werden wir abwarten müssen. Nur in einem Punkt bin ich mir sicher." Er schwieg für einen Moment und nahm noch einen Zug an der Zigarre.
„Es wird in die Geschichte eingehen. So oder so!"
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Iter Temporis- Die letzte Nacht auf der Titanic
Historical FictionEigentlich sind Tagebücher streng geheim. Gilt das auch noch, wenn man sie zufällig in einer öffentlich zugänglichen Bibliothek findet? Wohl eher nicht, denken sich Dario und Tim und wollen schon zu lesen beginnen. Doch da wird es in der stickigen B...