Narben

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Sebastian starrte aufs Papier. Es beschäftigte ihn sehr. Er macht sich bestimmt vorwürfe. Nur wegen mir. Ich nahm den Stift, den er in der Hand hielt, und legte meine Hand in seine. "Sebastian. Du bist einfach nicht schuld. Okay? Wir waren nur zur falschen Zeim am falschen Ort..." flüsterte ich leise, um die Aufmerksamkeit der anderen nicht auf uns zu ziehen. Ich schaute ihn an. Tief in seine blau grünen Augen. Er umschloss meine Hand. "Ich hatte gesagt, ich passe auf dich auf. Ich hab das Versprechen nicht halten können. Vertehst du?" sprach er leise. "Ach Sebastian. Das..." ich machte eine Pause um die richtigen Worte zu finden, "Das ist echt sehr süß von dir, aber du musst das nicht tun. Ich bin doch nur ein Mädchen. Ich bin einer von acht Milliarden Menschen auf dieser Welt. Ich bin nichts besonders. Ich bin nur normal. Okay, was ist schon normal?"
Er antwortete mir nicht. Den ganzen Tag nicht. Als wenn ich nicht da wäre, also machte ich es ihm gleich. Ignorieren. Es ist gerade so surreal. Wie die Zeit, bevor er gekommen ist. Wenn Soso mal nicht da war, war ich irgendwie immer alleine. Wir hatten noch Pause. Ich ging auf die Mädchentoilette um mich einzuschließen. Ob ich mich abholen lassen soll? Mit der Ausrede von Folgen von dem gestrigen Unfall? Nein eher nicht. Ich setzte mich auf den Toilettendeckel und holte mein Smartphone heraus. Ich öffnete den WhatsApp-Chat von Soso und mir und überlegte den Satz, den ich ihr schicken wollte. "Ich brauche dich gerade so sehr." schrieb ich ihr. Sie ist bestimmt mit Patrick glücklich, irgendwo und sie kuscheln. Ich starrte auf ihren Namen. Das 'zuletzt online' änderte sich nicht. Ich stützte meine Arme auf meinen Knien ab um anschließend meinen Kopf darauf zu stürzen.
Ich hielt die Luft an um nicht zu weinen. Die Tränen stiegen in meine Augen und ich biss mir auf die Lippe. Eine Träne fiel aus meinem rechten Auge auf den Stoff meiner Jeans. In diesem Augenblick würde mir wieder bewusst, wie fett ich bin. Ich nahm meine Händen von meinem Kopf um sie in die Jeans zu krallen. Ich merkte meine vernarbte Haut durch die Jeans hindurch. Narben meiner Vergangenheit. Die jüngsten gerade mal knapp 10 Tage. Aber fast verheilt.
Ich hatte es noch niemanden gesagt. Ich hatte es auch nicht vor. Ich wischte mir noch einmal mit meinen Ärmeln übers Gesicht und schaute danach wieder aufs Smartphone. Ich muss jetzt zum Unterricht. Sie war immernoch nicht online. Ich stand auf und drückte die Spülung, ehe ich die Kabine verließ. Ich wusch mir die Hände und ging wieder. Mir kamen gefühlt hunderte Menschen entgegen. Die Flure des Gebäudeteils sind voll. Ich schaute nach unten und ging mit den Krücken meinen Weg.
Ich musste jetzt zur Turnhalle. Unser jetziger Kurs hatte Vertretung.
Normalerweise hätten wir Biologie gehabt, aber weil sie mit ihrer Klasse einen Ausflug macht haben wir Vertretung. Als ich an der Halle ankam mussten wir noch warten. Unsere Lehrerin muss bestimmt noch schnell ihren Kaffee austrinken. Wie immer. Ich schaute die ganze Zeit auf mein Smartphone und dadurch nach unten. Es vibriert. Soso ht geantwortet. "Meh. Hast es ja fast geschafft..." schrieb sie. Sie tippte eine zweite Nachricht: "Und Lisa? Ich bin mit Patrick zusammen. Er ist soo süß und toll und einfach nur perfekt!". Autsch. Ich legte es weg und schaute hoch. Sebastian kam gerade. Ich wischte mir noch mal kurz über mein Gesicht, da wieder eine Träne den Weg nach außen gefunden hat.
Ich schaute wieder hoch, zu Sebastian. Warum kann ich nicht so viel Glück wie Soso haben? Er schaute mich traurig an, und ich ihn. Sein Blick hatte eine unheimliche Intensität, der ich versuchte entgegen zu wirken. Unsere Sportlehrerin kam endlich. Wurde ja auch mal Zeit. Ich frier mir hier den Arsch ab. Ich ging zum Raum und setzte mich in meine Standartecke direkt neben der Tür zur Umkleide. Ich legte meinen Rucksack ab unf zog meine Schuhe an. Ich bin fast wie Luft für die ganzen anderen. Sie hörten Musik, lachten und erzählten Witze. Ich bin nicht wie die anderen. Ich bin eben anders. Allein schon die ganzen Narben, die Erfahrungen, die Schmerzen, die schlaflosen Nächte. Kurzum: alles, was sie wahrscheinlich noch nicht erlebt hatten. Nach ungefähr zehn Minuten kam die Lehrerin wieder herein. Sie schaute mich an. "Wow. Du machst ja wiedermal keinen Sportunterricht mit." mahnte sie. Mir doch egal. Ich ging in die Halle hinein, meine Ärmel vom Hoodie hatte ich hinaufgezogen, da das gehen mit den Krücken doch recht anstregend ist. Ich war jedoch darauf bedacht, sie nicht zu hoch beziehungsweise zu offen zu legen. Narben zierten auch dort meine Haut. Ich nahm auf einer Bank der Tribüne platz und beobachtete die anderen. Ich merkte Bewegung neben mir und schaute diese Person an. Sebastian. "Hej..." flüsterte ich leise. Er schaute mich an. "Ich habe über heute Morgen nachgedacht..." meinte er nachdenklich. Okay. Ich habs verkackt. "Lisa, du bist nicht nur irgendein Mensch unter acht Milliarden. Du bist Lisa. Die tollste Person die ich kenne. Die ich schnell mag, die einfach nur super ist. Weißt du, du bist einfach nur toll. Ich will nur, dass du weißt ich hab' dich immernoch lieb. Auch wenn das nicht so rüberkommen mag. Und ich möchte, dass.." "Sebastian! Helf den anderen mal beim Aufbau!" schrie die Lehrerin durch die Halle. "Erzähl es mir später." flüsterte ich, als er schon fort gegangen war. Sie bauten den Parcour auf, der in den Leistungskursen gemacht wird. Unnötig. Ich saß in den beiden Stunden einfach nur herum und hing meinen Gedanken nach, die nur um Sebastian gingen. Ob ich es ihm sagen sollte, dass ich etwas für ihn empfinde? Ja, schon. Aber ich kenne ihn noch zu wenig. Was ist denn, wenn er nur so nett tut? Und nach ein oder zwei Wochen so richtig ekelhaft wird? Nein. Ich sollte es ihn nicht sagen. Ich schaute runter zu meinem Arm. So viele Narben. Die ganzen Zusammenbrüche, Ausraster, Erfahrungen und die ganzen Enttäuschungen. Von mir selber, und von anderen.
Ich habe Angst, dass das mit Sebastian auch so wird. Er war nirgends zu sehen. "Sebastian, ich liebe dich!" flüsterte ich leise zwischen den Geräuschen dener, die gerade den Parcour machten. "Bitte bleib!" fügte ich ein klein wenig lauter meinem vorangegangenem Satz hinzu.


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1050 Wörter.
Wie fandet ihr es?

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