Theo

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Nachdem ich meine Sachen ausgepackt habe, begebe ich mich in die Bibliothek im zweiten Stock. Hier reihen sich in hölzernen Bücherregalen Fachliteratur und Magazine zu archäologischen Themengebieten aneinander. Während ich durch die Reihen schlendere, grüble ich was wohl in dem Päckchen von Jonas drin sein könnte. Für einen kurzen Moment bin ich versucht, meine Mutter noch einmal anzurufen und sie zu bitten es doch für mich zu öffnen. Aber was würde das schon ändern? Es ist zu viel passiert. Zu viel, als dass es durch ein blödes Päckchen wieder gut gemacht werden könnten. Ach, verdammt... warum bin ich bloß so neugierig? Verärgert über mich selbst versuche ich mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Ich nehme einen dicken Wälzer mit dem Titel „Osmaniye" aus dem Regal und blättere Landschaftsberichte rund um die Gegend von Kadirli durch. Auch wenn ich selbst noch nie dort gewesen bin, wirken die Landschaftsfotografien auf mich seltsam vertraut. Vertraut und verschwommen, wie aus einer verblassenden Kindheitserinnerung.

Hinter mir vernehme ich Schritte und blicke mich um. Professor Theodor Großmann kommt auf mich zu.

„Maya, wie schön dich zu sehen!" Er breitet seine Arme aus und ich umarme ihn zur Begrüßung.

„Hi Theo, wie geht's dir?"

„Ich kann nicht klagen. Das Wetter ist wie immer spitzenmäßig." Er lacht sein typisch voluminöses Lachen, das ich so mag.

„Man siehts", merke ich schmunzelnd an. Die Sonne hat unverkennbar ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, mit Ausnahme der hellen Lachfältchen um seine Augen.

„Wird Zeit, dass du auch mal ein bisschen Farbe abbekommst. Freust du dich schon auf unseren „Ausflug"."

„Klar!" Ich strahle, und überdrehe vor Freude ein bisschen. „Brauchst du noch Hilfe bei irgendetwas?"

„Nee, komm du erst mal richtig an. Tom hat bereits alles für morgen vorbereitet. Er ist wirklich ein fleißiger Bursche." Erneut ertönt Theos raumfüllendes Lachen. „Ich bin sicher ihr werdet euch prächtig verstehen. Aber ihr habt euch ja bereits kennengelernt."

„Stimmt." antworte ich beiläufig.

„Heute Abend um acht treffen wir uns alle zum gemeinsamen Abendessen im Restaurant gegenüber. Dann lernst du noch ein paar weitere Kollegen kennen. Kann ich dich so lange alleine lassen? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen."

„Klar, kein Problem. Ich wollte sowieso noch was lesen."

„Ach, da hab ich was für dich. Komm mal mit."

Theo geht zu einem Bücherregal in den hinteren Reihen. Ich folge ihm. Er zieht ein altes Buch mit einem schwarzen Ledereinband aus dem Regal und pustet den Staub von der Oberfläche. Ich muss husten und lachen zu gleich: „Was ist das denn für ein alter Schinken?"

„Du magst doch die alten Sagen." Theo zwinkert mir belustigt zu. Ich erröte leicht. Auch vor Theo habe ich meine Faszination für mystische Geschichten nicht verbergen können. Aber anders als Tom spricht er mir dadurch nicht meine wissenschaftlichen Fähigkeiten ab. Ich glaube, er sieht es lediglich als kleine Macke von mir an.

„Danke", murmle ich leicht verlegen und muss wenige Sekunden später in Theos ansteckendes Lachen einsteigen. Es ist gut, über sich selbst lachen zu können. Und es ist gut, einen Freund wie Theo zu haben.

„Bis später, Maya."

„Bis später." Ich winke Theo zum Abschied nach und setze mich an ein kleines Arbeitstischchen.

Vorsichtig schlage ich das Buch mit dem schweren Einband auf und beginne zu lesen. Der Text ist in altertümlicher Sprache verfasst und handelt vom dem jungen König Azatiwada, der 800 Jahre vor Christi gelebt haben muss. Die Seiten sind stark vergilbt und teilweise verschmutzt, was das Lesen erschwert. Aber ich kämpfe mich tapfer durch und bin bereits nach der dritten Seite gefesselt von der Azatiwadas Geschichte.

Pferdehufe trappeln. Aufgeregte Stimmen rufen in einer fremden Sprache durcheinander. Eine Fanfare ertönt. Ich blicke mich um. In weiße Leinen gekleidete Männer schließen die wuchtigen Tore der Stadtmauer und verriegeln sie mit Holzkeilen. Frauen, mit kleinen Kinder auf dem Arm, rennen panisch an mir vorbei. Ein Tonkrug zerschellt auf dem Boden. Ich hebe eine der Scherbe auf und betrachte sie näher. Ein Steingeschoss schlägt wenige Zentimeter neben meinem Kopf ein. Plötzlich verlangsamt sich die Welt um mich. Wind kommt auf. Ich spüre den immer stärker werdenden Lufthauch an meinen Wangen. Ein Orkan braut sich zusammen. Die Tonscherben auf dem Boden beginnen zu tanzen. Sie drehen sich im Kreis und vermischen sich mit Sand und Staub zu einem immer größer werdenden Strudel. Ich lasse die Tonscherbe in meiner Hand los und beobachte wie eingesogen wird und sich im Strudel immer weiter nach oben dreht – bis sie nicht mehr zu sehen ist.

Ich schrecke hoch. Für einen kurzen Moment weiß ich nicht wo ich bin. Doch dann erkenne ich die Bibliothek vom DAI wieder. Ich muss eingeschlafen sein. Die Bilder aus meinem Traum beginnen zu verblassen. Krampfhaft versuche ich, sie in meinem Gedächtnis zu bewahren. Aber die Erinnerung an sie wird immer schwächer, und das was sich eben noch anfühlte wie Realität ist plötzlich ganz, ganz fern.

Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich erschrocken fest, dass es bereits zehn vor acht ist. In zehn Minuten muss ich beim Abendessen mit den Kollegen sein. Ich stopfe das Buch in meine Tasche und haste los.








Die Entdeckung des KaratepeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt