Tom

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Ich sitze neben Tom auf dem Beifahrersitz und blicke aus dem Fenster auf das hektische Treiben in den Straßen Istanbuls. Hupende Motorroller schlängeln sich an im Verkehr steckenden Autos vorbei. Mein Spiegelung in der Fensterscheibe blickt etwas blass auf mich zurück. Mit den Fingern entwirre ich meine lockigen Haare und binde sie zu einem Zopf zusammen. Verstohlen werfe ich einen Blick zu Tom hinüber. Er hat seinen linken Arm lässig auf dem Rahmen des geöffneten Fensters abgestützt und telefoniert mit seinem Handy.

Das ist also Dr. Tom Steiner. Im Rahmen meiner Abschlussarbeit habe ich einige Publikation von ihm gelesen. Er hat innerhalb kurzer Zeit eine beeindruckende Karriere hingelegt, beherrscht fließend vier Sprachen und ist spezialisiert auf Hieroglyphen und altertümliche Schriften. Er war bereits an mehreren großen Ausgrabungen beteiligt und arbeitet – wie auch Prof. Theodor Großmann – an der Entschlüsselung luwischer Hieroglyphen. Irgendwie habe ich ihn mir ganz anders vorgestellt. Viel älter, und weiß Gott nicht so attraktiv.

Tom beendet sein Telefonat und grinst mich frech an: "Offen gefallen mir deine Haar besser."

Ich spüre wie meine Wangen zu glühen beginnen. Bloß nicht rot werden, bloß nicht rot werden. Zu spät. Mein eben noch sehr blasses Spiegelbild hat eine pinke Farbe angenommen.

Flirtet der etwa mit mir? Nein, das kann nicht sein. Das ist Dr. Tom Steiner!!! Meine Augen wandern bemüht unauffällig zu seinen Händen, genaugenommen zu seinem Ringfinger. Check, keine Ehering! Aber das muss gar nichts bedeuten. Mensch Maya, reiß dich mal zusammen! Das ist ja peinlich!, schimpfe ich mit mir selbst.

"Maya?" Tom reißt mich aus meinem inneren Monolog.

„Ja?" Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ihm überhaupt nicht zugehört habe. „Was dich hierhin verschlägt, habe ich gefragt," wiederholt Tom höflich seine Frage.

„Meine Doktorarbeit. Ich schreibe über altanatolische Zivilisationen. Meinen Recherchen zufolge muss es in der Gegend rund um Kadirli eine bisher noch unentdeckte hethitische Siedlung geben." Kurz. Knapp. Souverän. Ich bin zufrieden mit meiner Antwort. 

Doch dann sprudelt es völlig unkontrolliert aus mir heraus. Reden hat mir schon immer gegen Nervosität geholfen. Blöderweise verlassen die Wörter meistens schneller meinen Mund, als sich die dazugehörigen Gedanken in meinem Kopf bilden können.

„Es wäre möglich, dass die Siedlung von den Hattiern erbaut und erst später von den Hethietern eingenommen wurde. Es gibt Aufzeichnungen, die besagen, dass der Wettergott Taru, oder auch Tarhunna genannt, dort tatsächlich gelebt haben soll. Dem möchte ich unbedingt nachgehen und hoffe, auf der Expedition einen Hinweis darauf zu finden," beende ich meinen Wortschwall.

Toms Lachen weicht einem skeptischen Blick, als er bemerkt, dass ich keinen Spaß gemacht habe: „Das ist eine... ähm... interessante These, die nicht nur sämtliche meiner Forschungsergebnisse zunichte machen würde. Diesen Unsinn glaubst du nicht wirklich, oder?"

Ich erröte. Schon wieder. 

Oh, Mist. Ich sollte endlich lernen, meine wilden Theorien für mich zu behalten, wenn ich jemals als Archäologin ernstgenommen werden möchte. Jetzt hält er mich bestimmt für so eine Verrückte, die an Geister und auf Erden wandelnde Götter glaubt...

„Naja, Mythologie hat mich schon immer begeistert," wiegle ich deshalb verlegen ab.

Tom schaut mich weiterhin kritisch an: „Ich dachte, du bist Wissenschaftlerin?" Ich schlucke. Tom will noch etwas sagen, aber verkneift sich netterweise einen weiteren Kommentar. Den Rest der Fahrt schweigen wir.

Nach zehn Minuten angestrengtem aus dem Fenster Starrens, stoppt Tom den Wagen am rechten Straßenrand und deutet auf ein großes Gebäude zu unserer Linken: „Bitte sehr, Madame. Wir sind da."„Vielen Dank fürs Abholen," bedanke ich mich hastig. „Kein Problem. Wir sehen uns dann später bei Abendessen." Tom reicht mir mein Gepäck aus dem Kofferraum und hupt zum Abschied zweimal. Ich bin froh, der peinlichen Stille entkommen zu sein. Rasch überquere ich die belebte Straße.

Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachte ich die Fassade des dreistöckigen Gebäudes vor mir. Das historische Bauwerk beheimatet neben dem Generalkonsulat auch das DAI ­– das Deutsch Archäologische Institut. Ein kauziger Pförtner geleitet mich durch das wuchtige Eisentor zu einem der Fahrstühle und erklärt mir den Weg zu meinem Gästezimmer.

Der kleine Raum ist spärlich eingerichtet. Das Fenster bietet einen sagenhaften Blick auf den Bosporus. Ich öffne es weit, um die stickige Luft im Inneren gegen Straßenlärm zu tauschen und lehne mich hinaus. Weiße Dampfer ziehen Linien aus schaumig sprudelndem Fahrwasser ins kräftige Türkisblau des breiten Flusses. Ich atme tief ein.

Die Melodie meines Handys unterbricht den Moment. Ich schließe das Fenster und ziehe den klingelnden Störenfried aus meinem Rucksack.

„Hi Mum."

„Hallo Maya, bist du gut angekommen?"

„Jaaaa. Bin ich. Ich hab doch gesagt, ich melde mich später."

„Später hast du eben am Flughafen auch schon gesagt. Wie viel später soll es denn noch werden?"

„Das war vor einer Stunde, Mum."

„Ja, eben."

Wortwechsel wie dieser machen mir deutlich, von wem ich meine Hartnäckigkeit geerbt habe. Ich räume meine Tasche aus, während meine Mutter fröhlich weiterplappert.

„Der Georg war grad hier. Mit der kleinen Luisa. Die ist vielleicht süß. Und immer so fröhlich. Sie kann schon drei Schritte am Stück laufen... Was der Georg für ein Glück hat. So ein niedliches Enkelkind. Aber ich werde mich da wohl noch etwas gedulden müssen. Dabei ist die Marie mit dir in einer Klasse gewesen und hat jetzt schon das Zweite... Der Felix wird nächstes Jahr eingeschult, hat der Georg erzählt. Wie schnell die Zeit vergeht... "

„Mum, warum erzählst du mir das überhaupt?" falle ich ihr ins Wort.

„Ach so, ja. Also, der Georg hat ein Päckchen für dich vorbeigebracht. Das hat der Postbote bei ihm abgegeben."

„Ein Päckchen? Was ist denn drin?" frage ich neugierig.

„Ich mache doch deine Post nicht ungefragt auf!" erwidert meine Mutter entrüstet. „Aber es ist von Jonas, steht zumindest auf dem Absender."

„Von Jonas?" Mir stockt für einen kurzen Moment der Atem.

„Maya?"

„Ja?"

„Was soll ich denn jetzt mit deinem Päckchen machen?"

„Ach, wirf es einfach weg." sage ich schnell.

„Wieso das denn? Du weißt doch überhaupt nicht was drin ist."

„Ich will es auch gar nicht wissen," behaupte ich.

„Aber vielleicht ist es etwas Wichtiges? Wenn du möchtest, kann ich es für dich öffnen..."

„Nein, Mum. Wirf es einfach weg!"











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