Durch die Fensterfront des Restaurants „Ayazpasa Rus" erblicke ich Tom, der in ein Gespräch mit Kollegen vertieft ist. Sein weißes T-Shirt von heute Vormittag hat er gegen ein dunkelblaues Hemd getauscht, das ihn erwachsener aber nicht weniger attraktiv aussehen lässt. Tom schaut durchs Fenster zu mir herüber und winkt mir zu. Ein leichtes Kribbeln macht sich in meiner Magengegend bemerkbar, stelle ich verärgert fest.
Ein Kellner weist mir den Weg zu unserem Tisch, um den sich neben Tom bereits fünf weitere Personen versammelt haben. Theo ist noch nicht da. Ich lächle in die Runde: „Hi, ich bin Maya."
Tom steht auf und gibt mir wie selbstverständlich zu Begrüßung ein Küsschen links und ein Küsschen rechts auf die Wange. Keine große Sache, das ist in der Türkei so üblich, versuche ich die wachsende Horde Schmetterlinge in meinem Bauch zu beruhigen. Leider zwecklos. Meine Konzentration ist gleich null. Noch während der Vorstellungsrunde, habe ich die Namen aller Personen bereits wieder vergessen. Marco, Adam, Jonathan? Wie war noch gleich der Name des dritten Mannes mit schwarzer Brille? Ich versuche mich krampfhaft zu erinnern. Vergeblich.
Glücklicherweise sind die fünf Archäologen schon längst wieder in ihr Gespräch vertieft, so dass meine Geistesabwesenheit unbemerkt bleibt. Nur Tom scheint meine Nervosität nicht entgangen zu sein. Er schenkt mir ein breites Grinsen und schiebt gentleman-like meinen Stuhl an den Tisch heran.
„Danke, geht schon..." erwidere ich und rutsche das letzte Stück selbst auf meinem Stuhl bis zur Tischkante, meinen Blick starr auf das kräftige Rot der Tischdecke gerichtet. Tom schiebt die Speisekarte in mein Blickfeld: „Wir haben bereits gewählt, der Fisch hier ist fantastisch."
„Danke", murmle ich, erleichtert für einen kurzen Moment eine Beschäftigung zu haben. Meine Augen simulieren Lesebewegungen während ich in der Speisekarte blättere und versuche aus der Unterhaltung der Archäologen erneut ihre Namen aufzuschnappen. Fest entschlossen, sie nicht direkt wieder zu vergessen, sage ich sie mir in Gedanken mehrfach vor: Marius, Adam, Jochen, Ulf und Stephan.
Als der Kellner kommt um meine Bestellung aufzunehmen, habe ich ihre Namen perfekt drauf, jedoch nichts ausgewählt. Spontan entscheide ich mich für den Hauswein und die Dorade.
„Gute Wahl," ertönt eine bekannte Stimme hinter mir. „Für mich bitte dasselbe." Ich drehe mich zu Theo um, der mir freundschaftlich auf die Schulter klopft und von der Archäologen-Runde freudig begrüßt wird. „Wie ich sehe, hast du alle schon kennengelernt", Theo lacht und nimmt neben mir Platz. Schlagartig fühle ich mich wohler. Angeregt beteilige ich mich am Tischgespräch, das sich mittlerweile um die ersten Stationen unserer Exkursion dreht. Adam und Ulf werden uns begleiten, erfahre ich. Sie forschen zwar in einem anderen Bereich, doch aus Kostengründen reisen wir gemeinsam. Ich freue mich darüber. Die beiden machen einen netten Eindruck.
Unser Essen wird serviert. Meine Dorade ist tatsächlich hervorragend. Ich genieße jeden Bissen – wohlwissend, dass ich mich in den nächsten Wochen von, auf dem Campingkocher aufgewärmten, Dosen ernähren werde. Nachdem die Teller abgeräumt und die dritte Flasche Wein geöffnet ist, geben Theo und Tom Anekdoten ihrer letzten Reise zum Besten. Wir kringeln uns vor Lachen.
Der restliche Abend vergeht wie im Flug. Ich entspanne in der gelösten Atmosphäre und auch die Schmetterlinge in meinem Bauch sind zur Ruhe gekommen. Um halb zwei sind wir die letzten Gäste. Schnell ordern wir die Rechnung, um die Bedienung in den wohlverdienten Feierabend zu entlassen.
Zurück im DAI lasse ich mich erschöpft und glücklich auf mein Bett fallen. Um vor dem Einschlafen noch ein bisschen zu lesen, nehme ich das Buch über den jungen König Azatiwada aus meiner Tasche.
Beim Aufschlagen des Buches rutscht ein gefalteter Zettel heraus. Das Papier ist brüchig und stark vergilbt. Vorsichtig falte ich den Zettel auseinander. Neben einer selbstgemalte Landkarte, enthält er Notizen, die in liederlicher Handschrift an die Ränder gekritzelt wurden. Ich meine, den Städtenamen Kadirli entziffern zu können. Aufgeregt richte ich meine Nachtischlampe auf den Zettel und betrachte ihn genauer. Neben dem Wörtchen Kadirli ist ein Löwenkopf eingezeichnet. Der Löwe ist das bekannteste hethitische Symboltier, sollte dies ein Hinweis auf die unentdeckte hethitische Siedlung in der Nähe von Kadirli sein? Mein Herz macht einen kleinen Sprung. An Schlaf ist vorerst nicht zu denken.
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Die Entdeckung des Karatepe
PertualanganDie junge Archäologin Maya steht vor dem bisher größten Abenteuer ihres Lebens. Sie darf Professor Theodor Großmann auf eine Expedition in der südöstlichen Türkei begleiten. Als Maya an einer Statue des hethitischen Wettergottes Tarhunna eine erstau...