Bibliothek

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Meine Zimmertür gibt ein stöhnendes Knarzen von sich, als ich sie öffne. Ich zucke bei dem Geräusch zusammen. Vorsichtig spähe ich auf den Gang. Der Flur ist in ein schummriges Licht getaucht. Die Fensterrahmen werfen symmetrische Rechtecke auf den Boden. Niemand ist zu sehen. Um die anderen Gäste nicht zu wecken, schließe ich leise meine Tür. Mit dem Buch unter dem Arm schleiche ich auf Zehenspitzen über den Gang.

Ich bleibe vor einem Fenster stehen und blicke auf den Vorplatz, der vom gelben Licht einer Laterne erhellt wird. Die Blätter der Bäume zittern im Wind und tanzen als gespenstische Schatten über den Platz. Ich höre das leise Stampfen eines Dampfers, der die dunklen Gewässer des Bosporus durchquert. Plötzlich leuchtet in der Finsternis das rote Glühen einer Zigarette auf. Angestrengt starre ich hinaus und erkenne eine dunkelgekleidete Gestalt, die an der Hauswand lehnt. Erneut glimmt die Zigarette auf. Es wirkt, als würde die Person zu mir hinaufschauen. Ich wickle meine Jacke eng um meinen Körper. „Wahrscheinlich ist das bloß der Nachtwächter," beruhige ich meine Gedanken.

Am Aufzug angelangt schalte ich das Licht ein. Schließlich tue ich hier nichts Verbotenes. Das grelle Licht der Halogenleuchten blitzt flackernd auf. Geblendet kneife ich meine Augen zusammen bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt haben. Die Schatten der Dunkelheit sind verschwunden, dennoch werde ich das mulmige Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ich nehme die Treppe um in den zweiten Stock zu gelangen und betrete die Bibliothek. Es ist kurz vor drei, lese ich an der antiquierten Uhr über dem Empfangstresen ab.

Eigentlich höchste Zeit, um ins Bett zu gehen. Morgen startet die Exkursion, auf die ich monatelang hingearbeitet habe. Da sollte ich zumindest halbwegs ausgeschlafen sein. Doch ab morgen befinde ich mich fürs Erste abseits der Zivilisation. Wahrscheinlich gibt es dort noch nicht mal Internet oder Handyempfang, von einer Bibliothek ganz zu schweigen. Wenn ich etwas recherchieren will, dann geht das nur noch heute!

Ich setze mich an einen der Arbeitsplätze und schalte das Licht an einer Vergrößerungslampe ein. Vorsichtig nehme ich den Zettel aus dem Buch. Ich falte das brüchige Papier behutsam auseinander und schiebe es unter die Lupe. Stück für Stück untersuche ich den Zettel. Neben der Zeichnung des Löwenkopfs steht tatsächlich Kadirli. Die Handschrift wirkt vertraut, obwohl ich außer dem Städtenamen kein weiteres Wort entziffern kann.

Zielstrebig suche ich eine Bücherreihe ab, in der sich neben Atlanten auch alte Landkarten aus unterschiedlichen Epochen befinden. Über die Jahrhunderte haben sich Gegend und Besiedlung häufig gewandelt. Alle Karten, die ansatzweise infrage kommen, staple ich auf meinen Arm und trage sie zum Arbeitsplatz hinüber.

Aufmerksam vergleiche ich die vergilbte Zeichnung auf dem Zettel mit den einzelnen Landkarten. Auf einer Karte aus dem Jahr 715 v. Chr. werde ich endlich fündig. Wenn ich den Maßstab richtig deute, findet sich hier tatsächlich die Aufzeichnung einer kleinen Kolonie oder Festung. Meine Augen beginnen zu leuchten. Das würde bedeuten, dass ich Recht hatte. Die Siedlung aus meinen Recherchen gibt es tatsächlich... oder zumindest ist es sehr wahrscheinlich, versuche ich meine Freude zu zügeln.

Am liebsten würde ich direkt Theo anrufen, doch mit einem Blick auf die Uhr entschließe ich mich, die freudige Botschaft aufs Frühstück zu vertagen. Aufgeregt mache ich Kopien von den Karten und packe alles ordentlich zusammen.

Plötzlich tippt mich jemand von hinten an. Ich zucke zusammen. Der Stapel Landkarten segelt zu Boden und mir entweicht vor Schreck ein kleiner Schrei: „Tom, was machst du denn hier?"

„Entschuldige. Ich wusste ja nicht, dass du so schreckhaft bist..." Tom lacht belustig auf. „Ich hab Licht gesehen, und..."

„Und deshalb muss du dich wie eine Raubkatze heimlich anschleichen?", fluche ich, während ich mich bücke, um die heruntergefallenen Karten aufzusammeln.

„Warte, ich helfe dir", bietet Tom hilfsbereit an. Er bückt sich ebenfalls nach den Karten und berührt – wie durch Zufall - meine linke Hand. Unsere Blicke treffen sich. Die Zeit steht still. Gäbe es einen Regisseur in meinem Leben, würde er diesen filmreifen Magic Moment vermutlich mit „Love is in the air" von John Paul Young untermalen. Ich versinke in Toms blauen Augen. 

Meine Wangen beginnen zu glühen. Ach, verdammt! Was ist denn los mit mir? Maya, werd' bloß nicht wieder zur knallrote Tomate... „TOM-ate, TOM-ate..." schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Mein Faible für blöde Wortspiele rettet mich aus der Situation. Denn ich kann nicht anders, als schallend los zu lachen. Mein Gelächter vertreibt schlagartig jede Romantik.

Tom schaut mich etwas verdutzt an, lässt sich jedoch von meinem Lachen anstecken: „Manchmal möchte ich wissen, was in deinem Kopf vorgeht."

„Besser nicht...", grinse ich und klemme mir die Kopien unter den Arm. Tom trägt mit mir die Landkarten zurück ins Regal. 

Gemeinsam verlassen wir die Bibliothek und fahren mit dem Aufzug in die dritte Etage. Vor meiner Zimmertür bleiben wir stehen. Der süßliche Geruch eines Zigarillos steigt mir in die Nase. Ich muss an das Glühen der Zigarette in der Dunkelheit denken.

„Gibt es hier eigentlich einen Nachtwächter", frage ich Tom.

„Ich glaube nicht, warum fragst du?"

„Ach, nur so..."

„Du kannst mich gern herein bitten, wenn du Angst im Dunkeln hast," zwinkert Tom mir frech zu.

Oh nein, denkt er etwa das war ein hilfloser Anmachversuch meinerseits?

„Ähm..." stammele ich peinlich berührt. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Toms Augen funkeln belustig. Der Arsch macht sich tatsächlich über mich lustig. Kein Wunder, wenn ich mich wie ein liebestoller Teenager verhalte... Zum Glück verbirgt die matte Beleuchtung wie es um meine Gesichtsfarbe steht.

„Ich hab keine Angst," presse ich mühsam hervor.

„Wie du willst..." Tom wendet sich mit einem verschmitzten Grinsen zum Gehen. Hastig sperre ich meine Tür auf und verschwinde ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen in meinem Zimmer. Das war mit Abstand der peinlichste Moment, der mir seit langem passiert ist.

Beschämt lehne ich mich mit meiner Stirn gegen die Tür und widerstehe dem Versuch, meinen Kopf zwei-drei-Mal gegen die Wand zu hämmern. 




Die Entdeckung des KaratepeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt