3. Tante Lilith

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"Sing für mich, Momi", wiederholte sie die ganze Zeit. Es trieb mich in den Wahnsinn.
Ich ging davon aus, dass all dies nur ein Albtraum oder ein schlechter Scherz sei. Es konnte nicht die Realität sein, es durfte einfach nicht.

"Momi, ich will dass du für mich singst, so wie du es früher immer getan hast", verlangte sie noch einmal von mir. Ich verstand nichts, hielt mir vor Schmerzen den Kopf und schüttelte ihn heftig. "Ein Traum, es ist alles nur ein Traum!", murmelte ich vor mich hin und wog mich kauernd hin und her.

Ein kreischender Ton drang durch meinen Kopf und sammelte sich, immer näher auf mich zu kommend, auf eine Stelle. Er wurde intensiver und lauter. Es fühlte sich an als ob er mein Trommelfell zerreißen würde. Er schrumpfte von der Größe her, wurde aber von der Lautstärke auf einen Punkt konzentriert, bis ein kleines, süßes Mädchen vor mir stand und mich mit geschwollenen, leicht geröteten Augen ansah.

Der Ton stoppte abrupt. "Mooomiiiiii! Sing mir was vor!", schrie sie mit zitternder, erstickter Stimme. Sie hatte warscheinlich geweint.
Ich trat einen Schritt zurück, sie schien mir unheimlich. Unwohlsein breitete sich in meinem Bauch aus. Es sagte mir, dass ich mich von ihr fernhalten sollte. Und das tat ich nach einem kurzen zögern auch.

Dabei ließ ich sie keine Sekunde aus den Augen. "Wer bist du?", fragte ich fest und versuchte mit meiner Stimme nicht allzu viel zu zittern, was mir allerdings nicht geling.

"Sing jetzt!", schrie sie mich wieder wütend an. "Wo sind deine Eltern?" "Momi, erkennst du mich denn nicht?", fragte sie verblüfft. "Ich bin es. Jeanette! Ich! Erkennst du mich denn nicht?", kreischte sie weiter und ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten zusammen.

Ihre blonden kurzen Löckchen wurden von einer Sekunde zur anderen pechschwarz und glatt. Durch die leuchtend blauen Augen zog sich ein dunkel roter Schleier und verhüllte sie komplett. Ihre Narben auf ihrem Gesicht färbten sich schwarz und stachen so durch ihre bleich gewordene Haut heraus.

"Was bist du?", flüsterte ich geschockt. "Bleib weg von mir!", fuhr ich mit einem hysterischen schreien fort. Ich drehte mich um und suchte nach einem Ausweg, doch sie erschien wieder aus dem Nichts vor mir und kam diesmal näher. Einen Schritt nach dem anderen ging sie auf mich zu. Ich konnte mich nicht rühren, kein noch so kleiner Muskel in meinem Körper hörte auf meine Befehle. Wie eine Statue erstarrt musterte ich die wie sie schwankend einen Fuß nach dem anderen auf mich zu setzte.
Panisch kniff ich meine Augen zu. Jede Faser meines Körpers zitterte. Plötzlich spürte ich eine Kälte. Wind?
Ja, es war Wind und er wehte meine Haare zur Seite. Ich traute mich langsam meine Augen zu öffnen. Ich stand auf einer wunderschönen Wiese. Das kleine Mädchen war weg. Weit und breit keiner zu sehen. War alles ein Traum? Nein, es könnte kein Traum gewesen sein, es war alles so real.

"Wo bin ich?", murmelte ich vor mich hin. Ich kaute auf meinen Nägeln rum und brach innerlich zusammen.

Momi, sieht eigentlich ganz hübsch aus. Ihre dunkelblonden, Schulter langen Haare und Smaragd grünen Augen kann man nicht verwechseln. Nur an der Art muss man noch etwas machen, sonst wäre sie meine perfekte Momi. Ich hab sie jetzt erstmal weg geschickt, dass war genug für heute aber morgen will ich wieder spielen.
Ich muss noch zu Tante Lilith und sie besuchen, sie vermisst mich bestimmt schon...

Ich ging in das Haus in dem Tante Lilith wohnt. Dort lebten viele alte Leute und sie besaßen alle ein eigenes Zimmer. Außerdem waren hier viele andere Menschen mit weißen Kitteln, die hier zwar nicht wohnten, aber sich um Menschen, wie meine Tante Lilith, kümmerten. Sie waren immer sehr nett zu mir und gaben mir Süßigkeiten.
Sie ließen mich wie immer in ihr Zimmer, nachdem ich sie höflich gefragt hatte. Leise öffnete ich die Tür und blieb im Türrahmen stehen. "Hallo Tante Lilith, ich bin es, Jeanette!", verkündete ich fröhlich, doch sie rührte sich nicht.
"Verschwinde, sofort!", schrie sie ängstlich. Sie saß auf dem Bett, mit dem Rücken zu mir gedreht und den Blick aus dem Fenster gerichtet. "Aber... Tante Lilith, ich hab Momi gefun...", sie ließ mich nicht ausreden, was mich traurig schmollen ließ. "Verschwinde! Deine Mutter wird nie wieder kommen. Sie mag dich nicht mehr, hat dich nie gemocht und nenne mich nicht Tante. Du bist nicht meine Nichte, du bist ein Monster und wirst es auch immer bleiben", erst jetzt richtete sie ihre Augen zu mir. Man sah pure Angst in ihnen. "Ich bereue es, dich nicht im Bauch meiner Schwester getötet zu haben!", ihre Stimme klang abwertend. Eine Träne floss aus meinem rechten Auge, darauf folgten weitere. Aus dem linken Auge kamen noch nie Tränen, wahrscheinlich wegen meiner Narbe, aber wieso genau versteh ich nicht. Heulend schmiss ich mich zu Boden und schrie. Sie war immer so gemein zu mir. Tante Lilith stand so schnell es ging auf und kam auf mich zu gerannt. Sie hockte sich vor mich hin und nahm mich in den Arm. Leicht wog sie mich hin und her. "Shhht, es tut mir leid, es tut mir alles so unendlich leid, ich wollte das nicht sagen", flüsterte sie in meine Haare hinein während sie sie streichelte. Sie hatte öfters diese 'Stimmungsschwankungen', wie die Menschen hier es nannten. Mit einem sanften Kuss auf den Kopf beruhigte sie mich entgültig.
"Ich mag dich nicht!", schluchzte ich. Sie erstarrte in dieser Position und fing an zu zittern. "Bitte, bitte nicht! Ich wollte das wirklich nicht. Ich liebe dich doch genauso wie meine eigene Tochter. Bitte!" Ich merkte deutlich die Panik die in ihrer Stimme mitschwingte, aber sie musste es lernen, sie dürfte mich nicht anschreien. Ich möchte das garnicht.

Lilith:
Wie aus dem nichts wurde alles um uns herum von einem schwarzen Schleier verhüllt. Von einer zur anderen Sekunde verschwand sie aus meinen Armen. Dies machte sie immer wenn die wütend, traurig oder enttäuscht ist. Ich schloss meine Augen und wollte dies alles schnell über mich ergehen lassen. Doch sie ließ mich diesmal warten. Die Angst stieg jede Minute die sie mich allein im Dunkeln sitzen ließ. Nach einer Ewigkeit spürte ich auch schon die ersten Schnitte ganz tief in meinem Körper. Von jeder Seite zog sich eine "schneidende Klinge" über meine Haut. Anders konnte man es nicht erklären. Wie als ob man sich an der Luft schneiden würde. Ich wusste es, sie ist ein Monster! Niemand in diesem Irrenhaus will und wird mir glauben. Sie denken alle ich wäre verrückt, das ich all dies mir selbst zufüge, doch was sich hier gerade abspielt ist die pure Realität. Das schlimmste ist allerdings, dass sie mich jedes mal, genauso so wie jetzt, am Leben lässt. Abermals bat ich sie darum mich zu erlösen, doch ohne mich wäre sie vollkommen allein. Mehr als sie es jetzt schon ist.
Selbstmord. Jeden Tag dachte ich daran, jeden Tag versuchte ich es, doch wurde jedes mal von den Pflegern aufgehalten.
Sie hörte nach unzähligen Verletzungen auf. Erschöpft legte ich mich komplett auf den Boden. Nach einem einzigen blinzeln stand sie wieder vor mir und legte sich zu mir. Vor lauter Schmerzen und gestiegener Angst zog ich sie fest zu mir. Sie mochte das Gefühl geliebt zu werden und nicht alleine zu sein. Nur so konnte ich sie jahrelang besänftigen.

Doch dies soll bald aufhören, schwor ich mir immer wieder.

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