1 ❧ »Möchtest du einen Kaffee?«

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Ausgelaugt und völlig erledigt bog ich in die schmale Einfahrt zu Lisas Haus. Die Fahrt in die Nacht hinein hatte mich mehr angestrengt, als ich mir eingestehen wollte. Ich wollte nur noch ins Bett.

Das Viertel am Ortsrand von Kreuzlingen passte so gar nicht zu Lisa. Sie war immer flippig unterwegs gewesen, ständig auf Partys und auch sonst ließ sie keine Gelegenheit aus, auf den Putz zu hauen. Inzwischen waren wir Ende zwanzig, und vielleicht begann auch sie, sesshaft zu werden.

Aber mit Per? Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Noch vor zwei Jahren hätte ich die beiden in einer stylischen Penthousewohnung in New York vermutet, aber stattdessen hat sich Lisa in dieses spießige Reihenhaus verliebt. Hier wurden mit Einbruch der Dunkelheit keine Partys gefeiert, sondern die Bürgersteige hochgeklappt.

Und genau so sah es jetzt auch aus. Irritiert schaltete ich den Motor aus. Er erstarb stotternd. Totenstille umfing mich augenblicklich, schließlich hatte mein Autoradio schon vor Monaten seinen Dienst quittiert.

Sollte nicht Licht im Haus brennen? Lisa wusste doch, dass ich kommen würde!

Schlief sie etwa schon? Oder war sie unterwegs? Mitten in der Nacht?

„Au!" Schmerzhaft erinnerte mich meine Lippe daran, dass ich nicht mehr auf ihr herumkauen sollte.

Meine Gedanken rasten. Klar, Lisa war schon immer eine Nachteule gewesen. Außerdem war Freitag ... Aber sie wusste doch, dass ich kommen würde!

Erschöpft sank mein Kopf auf das kalte, harte Lenkrad und ich begann zu zweifeln. Hätte ich bleiben sollen? Müssen? Einfach in ein Hotel gehen, gemütlich ausschlafen und am nächsten Morgen neu überlegen? Aber ich, ich war gleich Hals über Kopf wie eine Irre weit mehr als hundert Kilometer quer durch die Schweiz gedüst! Nur um einfach vor allem davonzulaufen? Oder hätte ich gleich an Ort und Stelle alles beenden sollen?

Müssen?

Mühsam richtete ich mich wieder auf, raufte mir die Haare und starrte missmutig auf die dunkle Haustür. Vielleicht hatte ich den magischen Blick und die Tür würde sich auf wundersame Weise öffnen.

Was diese überraschenderweise auch tat. Allerdings weniger durch meine telekinetischen Kräfte, als durch die Hände meiner besten Freundin, die im Halbdunkel des Türrahmens erschien.

Gerade hatte ich mich zum herkömmlichen Benutzen der Türklingel durchgerungen und starrte Lisa deshalb überrascht an. Nur verlor sie immer mehr an Schärfe. Ihre Silhouette verschwamm zu einem verwischten Schatten ihrer selbst. Heiße Tränen rannten in Sturzbächen meine Wangen hinab und tropften klatschend auf meine Jeans.

Lisa schaltete das Außenlicht an und ich kniff geblendet meine verheulten Augen zusammen. „Scheiße, mach das Licht aus!", fluchte ich in die Stille des Autos. Nur schemenhaft erkannte ich, wie meine beste Freundin die fünf Schritte zu meinem Auto hinunter hastete. Ich spürte es mehr, als dass ich sah, wie sie schwungvoll die Fahrertür meines alten Beetles aufriss.

„Mensch Kristine! Gott sei dank bist du jetzt da!" Ihre Miene hellte sich auf und die Erleichterung war unübersehbar. „Ich war schon halb auf dem Sofa eingeschlafen, als ich endlich deine Klapperkiste in der Einfahrt gehört habe." Sie zerrte mich aus dem Auto und schloss mich fest in ihre Arme. „Jetzt komm erst einmal rein! Möchtest du einen Kaffee?" Sie schob mich leicht aus ihrer Umarmung und sah mich erwartungsvoll an.

Trotz der Tränen und des grellen Lichts, das mich schier hatte erblinden lassen, schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf mein Gesicht. Mitten in der Nacht kreuzte ich völlig aufgelöst und ohne eine Erklärung bei ihr auf, und sie bot mir einen Kaffee an! Bevor sie auch nur irgendetwas fragte! „Ja, gern", schniefte ich und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Wie in alten Zeiten, oder?"

Es war, als würden wir immer noch zusammen im Studentenwohnheim wohnen. Damals hatte Lisa ein winziges Zimmer ein Stockwerk unter mir bewohnt. Nur war es zu der Zeit meist umgekehrt gewesen. Ich hockte den ganzen Abend hinter meinen Laptop und tippte Zeitungsartikel, während sie mitten in der Nacht von irgendeiner Party kam und ‚dringendst' einen Kaffee brauchte. Entweder gegen den Schwips, die Müdigkeit oder ihren Liebeskummer.

Kaffee war schon damals unser Allheilmittel gewesen. Und den Status des Kaffeejunkies wollte ich nicht aufgeben.

Kommentarlos ergriff Lisa meine Hand und zog mich mit ins Haus. Langsam schleppte ich mich ihr bis in die Küche hinterher. Sie sah so bezaubernd aus wie eh und je. Ein bisschen neidisch war ich immer noch. Schon immer gewesen. Sogar in diesen Wohlfühlklamotten, die man nicht zwingend als figurbetonend bezeichnen konnte, machte sie eine gute Figur. Groß, schlank, Traummaße und diese beneidenswerten braunen Locken. Nur das knallbunte Haarband, das früher ihr Markenzeichen war, um ihre Lockenmähne zu bändigen, war inzwischen verschwunden.

Ich zog mir einen kleinen, wackeligen Hocker unter dem Küchentisch hervor. Fast lautlos quietschte er über den Boden. Lisa stand an der Spüle und drehte gerade den rauschenden Wasserhahn ab. Sie angelte geübt die Kaffeedose aus dem hohen Küchenschrank, faltete raschelnd eine Filtertüte und füllte sorgsam Kaffeepulver in den hellbraunen Kaffeefilter.

Und schwieg. Leise begann der Wasserkocher zu klackern.

„Wie ich sehe, magst du immer noch keinen Maschinenkaffee", brach ich die gespenstische Stille zwischen uns. Meine Stimme dröhnte in dem kleinen Raum. „Auch Per scheint dich nicht überzeugen zu können ... Ist er nicht da?" Ich wartete insgeheim schon die ganze Zeit darauf, dass die Küchentür aufgestoßen wurde und Lisas Freund uns mit seiner unbeschwerten Art Gesellschaft leistete.

„Du lenkst ab", entgegnete Lisa und drehte sich zu mir um. „Du warst vor einem halben Jahr das letzte Mal hier. Und nur, weil Per jetzt hier wohnt, lege ich meine Gewohnheiten nicht ab. Was man von dir nicht behaupten kann!" Ihr schokoladenbraunen Augen musterten mein Gesicht und bewirkten, dass ich unbehaglich auf dem Hocker hin und her rutschte wie ein kleines Kind, das heimlich Süßigkeiten genascht hatte. Lisa war immer schon sehr direkt gewesen. Aber musste sie es heute unbedingt sein?

Der Wasserkocher rauschte ohrenbetäubend und spuckte fauchend heißen Dampf aus. Dass er immer noch funktionierte, überraschte mich. Schließlich hatte er uns schon zu Studienzeiten treue Dienste geleistet. Mit einem dumpfen Klicken stellte er seine Arbeit für den Moment ein und Lisa wandte sich wieder dem Kaffeefilter zu. Zischend goss sie einen großen Schluck heißes Wasser auf und wartete, bis der erste Schwall durchgesickerte war. Normalerweise würde sie jetzt erklären, dass diese Methode das Kaffeearoma besser entfalten ließe. Doch heute war nicht normal. „Aber um deine Frage zu beantworten, nein, Per ist nicht hier. Er tritt heute mit seiner Band auf." Es klang ausweichend.

Der verführerische Duft des Kaffees erreichte mich, dennoch nahm ich ihn gar nicht wirklich wahr. „Und du wolltest nicht dabei sein?" Ungläubig starrte ich ihren Rücken an. Die beiden waren doch ein Herz und eine Seele und klebten aneinander wie Pech und Schwefel! Außer sie stritten. Wie häufiger in letzter Zeit. „Ist alles in Ordnung?"

Lisa seufzte und drehte sich zu mir um. Ihre hochgezogenen Augenbrauen sprachen Bände. „Ich wäre dabei, hättest du nicht angerufen."

„Oh." Darauf hätte ich selbst kommen können! Betreten starrte ich auf die hellbraune Tischplatte. Natürlich. Sie hatte sich hier ein nettes, ausgefülltes Leben aufgebaut und wartete nicht allabendlich auf Anrufe von Freundinnen aus einer vergangenen Zeit. Schon gar nicht, wenn diese gerade zu ihrem Freund nach Davos ziehen wollten.

„Jetzt erzähl schon", unterbrach sie ungeduldig meine trüben Gedanken. „Da du mit Sicherheit nicht gekommen bist, um die Assimilation Pers und meiner Lebensgewohnheiten zu überwachen, möchte ich von dir wissen, was los ist. Warum dieser Spontanbesuch? Du weißt doch nicht einmal, wie man spontan schreibt! Außerdem diese Uhrzeit! Du wohnst ja schließlich nicht gerade um die Ecke! Für gewöhnlich reicht dir das Telefon, um dich auszukotzen. Irgendetwas muss dich aus der Bahn geworfen haben. Ich kenne dich gut genug, aber ohne Plan verlässt du nicht das Haus." Kritisch sah sie mich an. „Am Telefon warst du nicht gerade sehr gesprächig!" Der Vorwurf in ihrer Stimme war mehr als deutlich.

Liebe ... ist auch keine Lösung!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt